NDR-Chefdirigent präsentierte Richard Wagners “Parsifal“ als konzertante Aufführung mit Originalinstrumenten und erntete Beifallsstürme.

Dortmund. Knapp vier Stunden für die drei Akte, das ist ein Tempo, das manche Wagnerianer älterer Schule empört als Gotteslästerung bezeichnen würden. Während einige Dirigentenkollegen beim Anblick der "Parsifal"-Partitur devot in einen Zeitlupenrausch verfallen und diese Trance, selig entrückt, viel langatmiger auswalzen, ging NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock im Dortmunder Konzerthaus mit der für ihn typischen Historiker-Gründlichkeit einen ganz anderen Weg: Er entstaubte, legte trocken, erhellte und straffte.

Aus dem sämigen Bühnenweihfestspiel für Wagnerianer im Verzückungs-Endstadium wurde in dieser konzertanten Version, man glaubt es kaum, über weite Strecken ein geradezu rasanter Bühnenthriller, der dennoch nie ins atemlose Hecheln verfiel oder sensationshungrig ins überhitzte Extrem ging. Und es ist nicht übertrieben, wenn man am Ende des frenetisch gefeierten Konzert-Experiments behaupten möchte, dass damit das gerade begonnene Wager-Jubiläumsjahr 2013 weit abseits der üblichen Würdigungs-Routine seine erste musikalische Sensation verbuchen kann.

"Dirigenten, die das Feierliche eliminieren, sind falsch gewickelt", hatte Hengelbrocks Antipode Christian Thielemann 2006 zu seiner Wiener "Parsifal"-Einspielung erklärt, die zwar ähnlich schnell ausfiel, aber klanglich einige Welten von dieser Sichtweise entfernt ist. Doch Hengelbrock eliminierte überhaupt nichts, er setzte nur die Tempi und Valeurs anders in Beziehung. Damit ihm, seinen Freiburger Formationen und einem handverlesenen Sänger-Ensemble diese heikle Mission gelingen konnte, ging der Originalklang-Praktiker in zweiwöchiger Probenarbeit den mühsamen Weg des lohnendsten Widerstands: Darmsaiten für die Geigen und Vibrato nur in homöopathischen Dosen, um den Klang drastisch zu verschlanken; Flöten in der Bauweise des frühen 19. Jahrhunderts; die fast nie zum Einsatz kommende Alt-Oboe, die Wagner dem Englischhorn vorzog; die mächtig rumpelnde Donnermaschine, nachgebaut à la Bayreuth; Plattenglocken, Java- und Thai-Gongs nach des Meisters vermutetem Gusto für die Gralsglocken.

Das Balthasar-Neumann-Ensemble, normalerweise eine schnelle, kleine Eingreiftruppe, die das Konzert-Allerlei kammermusikalisch geschult aufmischt, war umfangreich aufgestockt worden und spielte dennoch so präzise, als läge eine klitzekleine Haydn-Sinfonie auf den Pulten. Großartig, auch auf die weite Entfernung zur Chorempore hin der Balthasar-Neumann-Chor. Alles in allem: Eine intelligente Radikalkur für die Ohren, eine als "work in progress" gedachte Erziehungsmaßnahme für das überdehnte Geschmackszentrum, die Nuancen zum Leuchten brachte, von denen man noch gar nichts wusste, weil sie sich normalerweise so tief unter der Aufführungs-Schminke verbargen.

Eines der größten vielen Wunder dieses Abends waren die Klarheit und Textverständlichkeit, mit der das Ensemble trotz des eigentlich so massiven Orchesterapparats in ihrem Rücken agierte. Auch das hatte Festspielniveau. Frank van Hoves Gurnemanz bewies statuarische Größe und Brillanz, Johannes Martin Kränzle präsentierte einen delikat finsteren Klingsor. Leicht neben der Spur wirkte Matthias Goerne, der als Amfortas etwas mehr am Da-Sein litt, als es die Partie vorsah. Dafür verlieh Simon O'Neill seinem Parsifal glänzend klare Konturen. Angela Denoke hatte als Kundry ihren großen Auftritt im zweiten Akt, den sie mit beängstigender Intensität zur Charakterstudie machte.

Auch wenn die Planung für dieses spektakuläre Projekt schon vor vier Jahren begonnen hatte: Für den musikästhetischen Schatzgräber Hengelbrock ist es wohl auch ein heilsames Trostpflaster für die nur schwer verheilende Ego-Wunde, die ihm 2011 nach seinem Debüt-"Tannhäuser" - mutig gegen den Strich gebürstet - durch die Verbannung aus dem Wagnerianer-Paradies Bayreuth zugefügt wurde. Na bitte, geht doch, signalisiert diese Überzeugungsarbeit der Gemeinde. Man kann also auch andernorts anders, um Wagners Visionen wirklich visionär erscheinen zu lassen. Der Grüne Hügel muss nicht mehr Maß aller Dinge sein, hieße das außerdem. Und für die Klangwirkung des Stücks, das so dezidiert auf die sehr speziellen Verhältnisse des Festspielhaus-Grabens hin entworfen wurde, war die Sichtbarmachung des Orchesters als Hintergrund der szenisch sanft andeutenden Sänger eine Emanzipation und Entzauberung der besonderen Art. Denn sie nahm dem Stück seinen kunstreligiösen Heiligenschein, den Nimbus des Unantastbaren. Eine klare Ansage nicht zuletzt auch an die Bayreuther Chefinnen-Etage, denen der Vorfahr mit dem Barett bekanntlich "Kinder, schafft Neues!" ins Stammbuch geschrieben hatte.

Die Dortmunder Aufführungen sind ausverkauft, ebenso die in der Essener Philharmonie, bevor es mit diesem Pracht-Stück an Gérard Mortiers Opernhaus nach Madrid geht. Soviel also zum Thema programmatischer Mut und dessen Akzeptanz durch das Publikum. In Hamburg, ungleich größer und solventer als die klammen NRW-Städte und kulturpolitisch viel ehrgeiziger, fehlte dieser Mut: Eine Kooperation, die das örtliche Staatsopern-Angebot zum Wagner-Jubiläum kritisch informiert bereichert hätte, war offenbar in der Laeiszhallen-Chefetage abgelehnt worden.

Rechtzeitig und als Erster groß denken, das muss man in der selbst ernannten Musikstadt Hamburg von anderen lernen, immer noch.