Der Hamburger Regisseur, der lange Zeit auf St Pauli lebte, wirft in den “Nachtschicht“-Krimis einen klischeefreien Blick auf seine Heimat.

Hamburg. Freitagabend auf dem Kiez. Die Große Freiheit füllt sich. Drei schwer angeschlagene Herren mittleren Alters bewegen sich wie eine Wand durch die Menge aus partywilligem Jungvolk und Touristen, die sich erzählen lassen, wo der Star-Club und das Salambo waren, im Hintergrund ist die neonerleuchtete Gitarre über der Großen Freiheit 36 zu erkennen. Hauptkommissar Erichsen (Armin Rohde) ist mit seinen Kumpels Petry (Ben Becker) und Quante (Alexander Held) auf Sauftour. Nächste Station des Trios ist das Dollhouse, ein dunkler Tabledance-Schuppen. Schon in der ersten Szene seines neuen "Nachtschicht"-Krimis "Geld regiert die Welt" geht Lars Becker mitten rein ins Gewühl der am Wochenende hoch frequentierten Straße zwischen Reeperbahn und Simon-von-Utrecht-Straße. Der Blick in die Partymeile ist ein typisches Hamburg-Motiv. Aber ein untypisches für Becker. Denn der Regisseur ist dafür bekannt, in seinen Filmen ein anderes, klischeebefreites Hamburg zu zeigen.

"Es ist das erste Mal, dass wir so einen leicht erkennbaren Ort gewählt haben. Aber er passt super zu den drei Typen. Außerdem ist es außergewöhnlich, dass wir überhaupt an einem Freitagabend in der Großen Freiheit drehen durften", sagt Becker mit Stolz in der Stimme. Denn Leute aus seinem Team hatten geunkt: "'ne Drehgenehmigung kriegst du nie!" Aber Becker verfügt über so exzellente Kontakte zur St.-Pauli-Szene wie nur sehr wenige.

Mehr als 30 Jahre hat er auf St. Pauli gelebt, erst vor Kurzem ist er mit seiner Familie nach Ottensen gezogen.

Die ersten sieben seiner Hamburger Jahre hat Becker drei bis vier Abende hinter der Theke in der Bar Centrale gestanden. 1980 hatte er zusammen mit fünf Freunden die Szene-Kneipe an der Clemens-Schultz-Straße eröffnet. "Wir waren damals die Einzigen, die eine dreigruppige Kaffeemaschine hatten", erzählt er. Aus Italien hatte er das Ding mitgebracht und erntete dafür die Anerkennung der Zuhälter, die damals den Kiez beherrschten und sich nach den Vornamen ihrer Chefs GMBH nannten. Eine Woche nach der Eröffnung kam Harry Voerthmann, das H aus der Buchstabenkombi, mit einem Kumpan in die Centrale, bestellte Kaffee und winkte den damaligen Studenten Becker an seinen Tisch, erklärte: "Baut hier keinen Scheiß, sonst machen wir den Laden zu. Verstanden?" Becker und seine Freunde hatten verstanden und führten die immer rappelvolle Kneipe sieben Jahre lang erfolgreich. Dann waren alle Beteiligten mit dem Studium fertig und gingen ihren Professionen nach. Becker begann Filme zu drehen. Bis heute profitiert er von dieser Erfahrung. An seinem Platz hinter der Theke hat er Tausende von Geschichten gehört und seinen Gästen aufs Maul geschaut.

Daraus zieht er seine Filmplots und seine präzise Sprache. "Großbürgerliche Milieus interessieren mich nicht. Ich finde Geschichten spannend, in denen Leuten das Wasser bis zum Hals steht. Die den extremen Wunsch nach Glück und Geld haben, die einen Überfall begehen oder irgendwo reinrutschen. Diese ambivalenteren Geschichten finden sich hier auf dem Kiez viel öfter als in den Vorstädten", sagt Becker und zieht sich an diesem kalten Wintertag die schwarze Mütze etwas tiefer über Stirn und Ohren.

Auf St. Pauli kennt er jeden Stein. Auf der Seite, auf der das Geschäft mit dem Sex läuft, genauso wie auf der anderen, die mitten in der Stadt etwas geradezu Idyllisches hat. "Die Simon-von-Utrecht-Straße trennt den Kiez. Von hier bis zur Stresemannstraße ist St. Pauli ein Dorf geblieben", sagt er und zeigt in Richtung Nordwesten. Dutzende von Kneipen, Bars und Restaurants wurden hier in den vergangenen Jahren eröffnet, die Mietpreise sind gestiegen, aber dennoch sind viele junge Familien in die Wohlwillstraße gezogen. Die Gentrifizierung ist hier noch nicht so fortgeschritten wie in der Schanze.

Hier entdeckt Becker Drehorte wie das Café Latte ("der beste Kaffee der Stadt"), das Café May oder den Imbiss Mr. Kebap am Neuen Pferdemarkt. Authentische Orte, in denen seine Filmfiguren das ihnen entsprechende Ambiente finden. "Location needs character", zitiert Becker eine Weisheit von Filmschaffenden. "Der Look eines Films wird nicht nur von seiner Ästhetik bestimmt, sondern von seinen Motiven. Bilder, die man zu oft gesehen hat, nutzen sich ab." Für Hamburg sind das Ansichten von Blohm + Voss, vom Michel, von der Alster. Um die richtigen Motive zu finden, erläuft der Regisseur sich die Stadt. Abseits der touristischen Pfade. Dabei entdeckt er selbst vor seiner Haustür immer wieder ungewöhnliche Orte.

Wie das von Maschendraht eingezäunte Basketballfeld zwischen Großer Freiheit 36 und Gruenspan. Hier hat er gerade eine wichtige Szene für den Krimi "Unter Feinden" gedreht, der später im Jahr im ZDF laufen wird. "Dafür haben wir mit Genehmigung des Bezirks das ganze Gestrüpp entfernt, denn der Platz war total zugewachsen." Von hier aus kann man jetzt wieder die grafische Malerei am Gruenspan erkennen und in der anderen Richtung die Tourplakate neben dem Bühneneingang der Großen Freiheit 36. Ein bisschen wirkt dieser Käfig wie New York. Aber es ist ein Stück Hamburg. Nur eben nicht langweilig offensichtlich.

Immer wieder begibt sich Becker für seine Krimis auch in soziale Brennpunkte. Seine Loser und Gestrandeten leben in Wohnblocks mit Graffiti-beschmierten Wänden und aufgebrochenen Briefkästen. In Mümmelmannsberg, in Steilshoop, am Osdorfer Born, in Wilhelmsburg. Diese Viertel sind die Kehrseite der Hansestadt mit ihren prächtigen Villen und schattenspendenden Alleen. Hamburg wirkt hier so abgerissen wie Schuhe mit schief gelatschten Absätzen. Der Kiez mit seinen Verlockungen scheint Lichtjahre entfernt.

Eine Nacht im Dollhouse kann sich kaum jemand leisten, der hier wohnt. Erlaubt sind nur Träume.