Die London Underground feiert in diesem Jahr ihren 150. Geburtstag. Sie war ein revolutionär neues Verkehrsmittel, wurde zum Vorbild für Hamburgs Hochbahn - und ist heute auch ein Ort für Kunst und Kultur

Welche U-Bahn-Linie verbindet Hamburg und London? Nur auf den ersten Blick ist das eine Scherzfrage. In der britischen Hauptstadt wird in diesem Jahr der 150. Geburtstag der "Mutter aller U-Bahnen" gefeiert. Wie stark hat die Underground an der Themse die Hochbahn an der Elbe geprägt? Wie viel London steckt in Hamburg?

Bereits 1891 empfahl der Ingenieur Franz Andreas Meyer der Hansestadt den Bau einer Vorortringbahn mit Dampflokomotiven nach Londoner Vorbild. Wenig später wird die Idee diskutiert, eine Untergrundbahn wie in der britischen Hauptstadt oder aber eine Schwebebahn, wie sie in Wuppertal gerade eröffnet worden war, zu bauen. Hamburg entschied sich für die U-Bahn - nannte sie allerdings Hochbahn.

Als deren Betrieb vor 101 Jahren begann, war die Hansestadt die zehnte europäische Metropole, die ihren Bürgern dieses Verkehrssystem anbot. London hatte bereits 1863 seine Underground oder, wie die Briten sagen, The Tube erhalten. Dafür mussten die ersten Passagiere dort auch einige Kinderkrankheiten wie etwa den Dampflokbetrieb in Kauf nehmen. In Hamburg dagegen startete man gleich elektrisch.

Die Tube ist mehr als ein Verkehrsmittel, sie ist auch ein Mythos und Gegenstand zahlreicher Beschwerden und Anekdoten. Vor 150 Jahren wurde sie als weltweit erste Untergrundbahn in Dienst genommen. Heute benutzen sie bis zu 1,1 Milliarden Passagiere pro Jahr. Der Alltag in der Metropole ist ohne sie beinahe undenkbar.

Mitte des 19. Jahrhunderts ging im Londoner Straßenverkehr fast nichts mehr. Die Bevölkerung in der damals größten Stadt der Welt war von knapp einer Million im Jahr 1800 auf mehr als 2,5 Millionen im Jahr 1850 angewachsen, die Straßen waren chronisch verstopft. Also beschloss man, eine unterirdische Bahnlinie zu bauen, die die Bahnhöfe am Stadtrand mit der Innenstadt verbinden sollte. Schon am ersten Tag nutzten 40.000 Passagiere im Januar 1863 das Angebot. Einen Tag zuvor hatte sich ein Sonderzug mit Prominenten auf den Schienenweg von Paddington nach Farringdon Street gemacht. Im Zielbahnhof gab es ein Festessen für 700 Gäste. Allerdings fehlte der britische Premierminister. Lord Palmerston, damals 79, ließ die Veranstalter wissen, er habe sich entschlossen, noch einige Jahre über der Erde zu bleiben. Die "Daily News" schrieb: "Zum ersten Mal in der Geschichte der Welt können Menschen in angenehmen Waggons und mit beträchtlichem Komfort reisen, tiefer unten als Gas- und Wasserleitungen, tiefer als die Friedhöfe."

Lord Palmerston hätte gar nicht so tief herabmüssen, denn die ersten Bahnlinien verliefen dicht unter der Erdoberfläche. Sie wurden nach der einfachen "cut and cover"-Methode gebaut. Ein Tunnel wurde gegraben und mit einem Dach versehen, über dem dann wieder die Straßen verliefen. Die erste Stecke war etwa fünf Kilometer lang. Für die 18 Minuten dauernde Fahrt in der Metropolitan Railway konnte man unter drei Klassen wählen.

Die Passagiere nahmen das neue Verkehrsmittel gut an. Es gab weniger Pannen als befürchtet, allerdings ständige Beschwerden über Hustenreiz, ausgelöst durch die Abgase der Dampfloks. Natürlich mussten für eine Reise in dunklen Tunneln auch einige Urängste überwunden werden. Der Autor R.D. Blumenthal schaffte das offenbar nicht so ganz und schrieb 1887 über sein Fahrerlebnis: "Ich hatte heute meine erste Hades-Erfahrung. Wenn es in Wirklichkeit auch so ist, werde ich nie wieder etwas Unrechtes tun."

Ab 1890 fuhr die erste elektrisch betriebene Bahn auf der Northern Line. Wegen der Elektrifizierung war es auch möglich, die Züge tiefer unter der Erde fahren zu lassen - 17 Meter. Die Tunnel dazu wurden nach dem Schildvortriebverfahren gebaut, das der Ingenieur Marc Isambard Brunel erfunden und erstmals beim Bau des Themse-Tunnels erprobt hatte. Er war durch die Beobachtung des Schiffbohrwurms auf die Idee dazu gekommen.

Die Züge in diesen tiefen Tunneln waren schneller, hatten engere Wagen, die nur kleine Sehschlitze als Fenster besaßen. Der "Punch" schrieb von der "Sardinenbüchsen-Eisenbahn". Besonders schockiert waren einige Zeitgenossen darüber, dass es keine unterschiedlichen Klassen mehr gab.

Bis 1908 war das Netz komplett elektrifiziert. 1911 wurden im Bahnhof Earl's Court die ersten Rolltreppen ein

gebaut. Das neue Verkehrsmittel brachte die Bürger zur Arbeit, zu den Freizeitattraktionen und wieder nach Hause- und ließ Touristen die Stadt entdecken. Entlang der neuen Bahnlinien entstanden außerhalb der Stadt Siedlungsgebiete. Die Streckenführung definierte also mit, wie der Speckgürtel wuchs. Im Zweiten Weltkrieg boten die Stationen und Tunnel der Underground den Londonern Schutz vor den Luftangriffen der Deutschen. Trotz der Enge und der bedrohlichen Situation fühlten sich dort die bis zu 177.000 Menschen wohler als in manchem Bunker auf Straßenniveau. Die Tube hatte den Ruf als "sichersten Schutzraum von allen", heißt es im Buch "Underground: How the Tube Shaped London".

Weltweit wegweisend war London auch bei der Gestaltung des Linienplans: Mitarbeiter Harry Beck vereinfachte die Karte 1933 so, dass sie zwar nicht mehr geografisch stimmte, aber dafür mit klaren farbigen Linien übersichtlich wurde. Dieses Muster übernahmen viele Stadtbahnen in aller Welt - auch Hamburg.

Nach dem Ende des Krieges kamen einige Eigenschaften dazu, die bis heute das leicht angekratzte Renommee der Tube prägen. Die Wagen sind oft überfüllt, in einem desolaten Zustand, und die Pannen häufen sich. Diese mit Gleichmut hinzunehmen - gesprochen wird ohnehin nur in Ausnahmefällen - zählt ebenso zu den ungeschriebenen Gesetzen wie die Wahrung der Privatsphäre trotz beengter Verhältnisse. Es gilt als ausgesprochen unfein, sein Gegenüber zu lange anzusehen. Das dazu passende Bonmot lautet: "Wenn Gott gewollt hätte, dass wir uns in der Tube anschauen, hätte er den 'Evening Standard' nicht erfunden." Es ist, als würden in der Underground britischer Pragmatismus und die Neigung sich durchzuwursteln aufeinandertreffen.

The Tube ist nicht nur Fortbewegungsmittel und Wirtschaftsfaktor, sie ist eine Marke, aber auch ein Ort der Kunst und Kultur. An der Wand der Station Baker Street verweist neben dem ikonografischen Underground-Logo ("bulls eye")mit dem roten Kreis und dem blauen Querbalken, ein Porträt auf ihren wohl berühmtesten, wenn auch fiktiven Anwohner - auf Sherlock Holmes. Bands wie The Jam oder Blur machten in ihren Songs und auf den Covern die Underground zum Thema. Rund 300 Straßenmusiker können sich um eine der begehrten Jahres-Lizenzen bewerben, die ihnen erlauben, in den Gängen Musik zu machen. Und: Die Bahnhöfe sind Spielwiesen der Architektur. Frühe Haltestellen waren im Art-déco-Stil gehalten. Die Station Canary Wharf in den Docklands ist eine wahre Metro-Kathedrale, entworfen von Stararchitekt Norman Foster.

Am 6. Juli 2005 verkündete das Internationale Olympische Komitee die Entscheidung über den Austragungsort der Olympischen Spiele 2012: London. Der Jubel in der Stadt war enorm, verstummte am nächsten Tag aber jäh, denn es gab Terroranschläge in der Themsemetropole. Britische Muslims ließen Bomben in ihren Rucksäcken explodieren, drei in Zügen der Underground, eine in einem Bus. 52 Passagiere starben bei diesen Anschlägen, die Stadt war geschockt, und die Passagiere waren sich mehr als vorher ihrer Verletzlichkeit bewusst. Der aus Hamburg stammende und in London lebende "Guardian"-Redakteur Philip Oltermann erinnert sich: "Sicherlich ergab sich am Anfang aus den Anschlägen ein anderes Verhalten. Man achtete mehr darauf, wer noch mit im Abteil saß, anstatt, wie sonst, stur auf seine Zeitung zu starren. Und größere Koffer oder Rucksäcke lösten leicht Panik aus. Aber inzwischen ist die alte Routine wieder eingekehrt." Mit einiger Sorge sahen die Verantwortlichen danach den Olympischen Spielen entgegen. Aber sowohl sie als auch die im selben Jahr veranstalteten Paralympics galten als rundum gelungen und führten zu keinerlei Verkehrsinfarkten.

Die Zukunft der Underground hat längst begonnen. Seit Februar 2012 wühlen sich acht deutsche Tunnelbohrmaschinen durch das Londoner Erdreich. Sie bauen eine 21 Kilometer lange Doppelröhre unter der City, die das Kernstück der neuen Ost-West-Verbindung Crossrail wird. Sie gilt als Europas größte Baustelle und soll 2018 fertig sein. An sieben der 37 neuen Bahnhöfe kann man dann in die "alte" Underground umsteigen. Einer davon wird Farringdon sein, das Ziel der ersten Underground-Fahrt im Jahr 1863.

Ach ja, eine Frage ist immer noch offen: Welche U-Bahn-Linie verbindet denn nun Hamburg und London? Es ist die U 3. Wie die Circle Line in London ist sie als Ringlinie konzipiert - und wie das Londoner Vorbild wird die U 3 im stilisierten Netzplan durch die Signalfarbe Gelb dargestellt. Wenn das nur ein Zufall ist ...