Die Historikerin Heike B. Görtemaker über Hannah Ahrendt

Die Berliner Historikerin Heike B. Görtemaker, 48, ist Expertin für NS-Geschichte und Autorin des Buchs "Eva Braun. Leben mit Hitler".

Hamburger Abendblatt:

1963 erschien Hannah Arendts Buch "Eichmann in Jerusalem" in Deutschland. Welche Bedeutung hatte es damals?

Görtemaker:

Arendt hat damit auch hier eine große Kontroverse ausgelöst. Es wurde als Skandal aufgefasst, dass sie behauptete, das Böse sei derart "banal" gewesen. Sie wurde als Verräterin an der jüdischen Sache gesehen: Wie könne man Eichmann nur als Bürokraten darstellen, der gedankenlos gehandelt habe? Man hat ihr unterstellt, sie wolle den Holocaust relativieren. Das hat ihr Ansehen beschädigt. Einige, wie der Historiker Kurt Sontheimer, haben später versucht, den Skandal historisch einzuordnen: Sie sei von ihren Kritikern vielfach missverstanden worden.

War das eine akademische Kontroverse? Sie war ja nicht sehr bekannt in Deutschland.

Görtemaker:

Zuerst sicher. Aber die Verkürzung ihrer Darstellung und die plakative Kritik, sie verharmlose den Holocaust, sind dann in die Feuilletons und damit in eine breitere Öffentlichkeit gelangt. Auch bekannte Publizisten wie Joachim Fest oder Golo Mann nahmen dazu Stellung.

Warum hat Deutschland Israel nicht aufgefordert, ihn auszuliefern, um ihn hier anzuklagen?

Görtemaker:

1949 war die Entnazifizierung beendet, inzwischen hatte die Phase der Aufbauzeit begonnen. Adenauer setzte darauf, einen Neuanfang zu machen und wollte die früheren Täter eher integrieren, wenn sie nicht direkt als Mörder bekannt geworden waren. Viele Täter blieben unbehelligt und züchteten irgendwo hinter hohen Hecken Rosen, oft unter falschem Namen. Aber darüber wollte man nicht reden. Außerdem fiel die Kontroverse über Arendts Eichmann-Buch in eine Zeit, in der die wissenschaftliche Beschäftigung mit der NS-Zeit noch bevorstand. Die begann erst Ende der 1960er-Jahre.

Der Historiker Joachim Fest und Hannah Arendt diskutierten 1964 in einem viel beachteten Rundfunkgespräch, ob das Dritte Reich einen "neuen Täter-Typus" hervorgebracht habe.

Görtemaker:

Man muss berücksichtigen, dass Arendt ihre These von der "Banalität des Bösen" unter dem Eindruck des Eichmann-Prozesses formuliert hat. Sie war selbst völlig überrascht, dass Eichmann nicht zwei Hörner und einen Pferdefuß hatte, sondern äußerlich und in seinem Auftreten absolut bieder und unauffällig war. In dem Rundfunkgespräch mit Fest bezeichnet sie es als "empörend", dass Eichmann so "dumm" gewesen sei: Er habe doch eine Alternative zu seinem Handeln gehabt, er habe nicht mitmachen müssen, sondern selber urteilen können. Befehle einfach auszuführen, ohne nachzudenken - das habe sie gemeint mit Banalität. Solch ein Verhalten sei nicht dämonisch, habe keine Tiefe. Fest hat 1964 Arendts Einschätzung geteilt. Und dann hat er sie auf Albert Speer übertragen, den er zwei Jahre später nach dessen Entlassung aus Spandau kennenlernte. Er glaubte, auch bei Speer die von Arendt bei Eichmann festgestellte Kombination aus Wirklichkeitsverweigerung und Verantwortungslosigkeit zu erkennen.

Werden NS-Täter heute kritischer beurteilt?

Görtemaker:

Ja, und in dieser Rückschau beurteilt man auch Hannah Arendt etwas anders. Tatsächlich war Eichmann ja nicht bloß ein braver und gedankenloser Bürokrat. Er war ein Überzeugungstäter. Er trat 1932 nicht nur in die NSDAP ein, sondern auch in die SS, nicht weil man ihn gezwungen hätte, sondern weil er überzeugt war, dass die das Richtige taten. Nach 1945 überlegte er eine Selbstinszenierung, um seinen Hals zu retten. Zu Hannah Arendts Entlastung muss man sagen: 1961 beim Prozess und auch 1964 wusste man noch nicht, was wir heute wissen. Die Quellenlage ist heute besser.

Welche Bedeutung hat Arendt heute?

Görtemaker:

Sie stellt grundsätzliche Fragen, etwa: Was ist das Böse? Warum hatten NS-Täter wie Eichmann keine Werte, die sie davon abhielten, zum willigen Vollstrecker der Vernichtungspolitik zu werden?