Das Drama “Der Geschmack von Rost und Knochen“ von Regisseur Jacques Audiard ist ein kraftvolles Meisterwerk ohne Sentimentalität.

Es gibt diese Momente im Leben, in denen sich von einer Sekunde zur anderen alles ändert. Was dann folgt, ist oft der Stoff, aus dem große Dramen gesponnen werden, in denen Wunder des Neuanfangs geschehen können. Wie das Leuchten auf dem Gesicht von Stéphanie (Marion Cotillard), als der Ex-Boxer Alain, genannt Ali, gespielt von Matthias Schoenaerts, sie nach Monaten in der selbst gewählten Verdunkelung an den Strand und zum Schwimmen ins Meer hinausträgt. Es ist der Beginn von etwas Neuem. Zwei Gestrandete, die sich neu erschaffen.

Hinter dem etwas martialisch betitelten Film "Der Geschmack von Rost und Knochen" des französischen Regisseurs und Drehbuchautors Jacques Audiard verbirgt sich ein kraftvolles Meisterwerk um nichts weniger als die Bedingungen der menschlichen Existenz. Um den Umgang mit Schicksalsschlägen, aber auch um soziale Verlierer am Ende der gesellschaftlichen Nahrungskette und wirtschaftliche Ausbeutung.

Die Bedingungen für Glück könnten schlechter kaum sein. Ali, von seiner Frau verlassen und überfordert mit seinem fünf Jahre alten Sohn Sam, findet Zuflucht in einer Garage bei seiner Schwester Anna (Corinne Masiero), die an der Côte d'Azur in einem Supermarkt anheuert. Bei seinem Gelegenheitsjob als Diskothekenrausschmeißer lernt Ali fast beiläufig Stéphanie kennen, die im Marineland Killerwale trainiert. Monate später ruft sie ihn an. Ein tragischer Arbeitsunfall nahm ihr beide Beine.

Auch diese Episode filmt Audiard wie ein minutiöses, mehrperspektivisches Ballett. Ohne Effekte, aber aus beeindruckend subjektivem Blickwinkel. Nichts ist hier künstlich überhöht oder abstrahiert. Alles ist direkt sichtbar, offen, ungeschönt, aber, anders als andere Sozialdramen, mit Sinn für Atmosphäre bebildert. Ausgerechnet der etwas grobe, von Natur aus mit wenig Mitgefühl ausgestattete Ali wird der depressiv in ihrer Wohnung dahinvegetierenden Stéphanie mit nüchternem Pragmatismus zurück ins Leben verhelfen. Und ganz nebenbei auch sich selbst.

Ohne jede Sentimentalität schildert Audiard mit seinem Co-Autor Thomas Bidegain - lose angelehnt an die Novellensammlung "Rust and Bone: Stories" von Craig Davidson - die Annäherung und Freundschaft des ungleichen Duos. Mit Dialogen von ähnlicher Rohheit wie die Schläge, die Ali beim Boxen austeilt. Missverständnisse, Verletztheiten, aber auch Zeugnisse von wahrer Freundschaft, wenn Ali sich per SMS zur Triebabfuhr zwischendurch bestellen lässt. Und wenn Stéphanie schließlich, mittlerweile mit künstlichen Beinen ausgestattet, sogar den Job übernimmt, Alis blutige Boxwettrunden zu organisieren.

Jacques Audiard, Experte für das vom Leben vernachlässigter Antihelden, hat schon für den Vorgänger, das Knastdrama "Un Prophète", eine Osarnominierung erhalten. In dieser Geschichte eines jungen Franzosen maghrebinischer Abstammung, der sich im Gefängnis mithilfe der korsischen Mafia hocharbeitet, bewies Audiard ein Gespür für cineastisches Erzählen mit unerbittlicher Tiefenschärfe. Auch diesmal hat er gute Karten. Bei den Golden Globes ist der Film schon als bester fremdsprachiger Film im Rennen. Nominiert ist auch Marion Cotillard als vom Leben versehrte junge Frau, was übrigens mithilfe digitaler Technik täuschend echt dargestellt wird.

Obwohl Audiard die Schraube immer weiter anzieht, überspannt er den dramatischen Bogen nicht. Glaubhaft vollzieht er einen langen Prozess der Selbstfindung seiner Charaktere nach. Und bald schon ist Stéphanie die Starke, bei sich selbst wieder Angekommene, während der vielfach unbewusst handelnde Ali einige gewaltige Dummheiten begehen wird, die ihn am Ende genauso vom Leben abzuschneiden drohen wie der Unfall Stéphanie.

Bewertung: überragend

"Der Geschmack von Rost und Knochen" F/B 2012, 127 Min., ab 12 J., R: Jacques Audiard, D: Matthias Schoenaerts, Marion Cotillard, Corinne Masiero, täglich im 3001, Holi, Koralle, Passage; www.der-geschmack-von-rost-und-knochen.de