Kolorierte Chroniken statt Smartphone: Der Kunsthistoriker und Bibliothekar Thomas Gilbhard will die papiernen Schätze zum Glänzen bringen.

Hamburg. Bibliothekare, zumal wenn sie in einem Museum arbeiten, haben gemeinhin ein anderes Tempo als die überwiegende Mehrheit. Im Gegensatz zu ihren gehetzten Mitmenschen sind sie nicht ständig online oder blicken auf ihr stets eingeschaltetes Smartphone, sie sehen dem Besucher in die Augen, um sich dann wieder ohne Hast ihren Lieblingen, den Büchern, zuzuwenden. Auch Thomas Gilbhard ist so ein Mensch. Bedächtig geht er durch die kleine Präsenzbibliothek des Museums für Kunst und Gewerbe, um danach die kalt beleuchteten, deckenhohen Regale abzuschreiten, in denen die gesamten papiernen Schätze des Hauses lagern. Die Bestände schätzt der promovierte Kunsthistoriker und Philosoph auf 170.000, das Herzstück aber bildet die rund 4000 Exemplare umfassende Sammlung Buchkunst.

Die war es, die Thomas Gilbhard, 44, so interessierte, dass er im Oktober vergangenen Jahres an das Haus am Steintorplatz gewechselt ist. In der Sammlung Buchkunst ist "die ganze Geschichte von der Anfangszeit der Buchkunst und Druckkunst bis heute dokumentiert", schwärmt Gilbhard. Ungefähr ein Dutzend Inkunabeln des ersten Jahrzehnts der Druckkunst bis zum Jahr 1500 nennt die Bibliothek ihr Eigen. Darunter die kostbare, handkolorierte Schedel'sche Weltchronik aus dem Jahre 1493, an der schon Alfred Dürer mitgezeichnet hat.

Trotz der Besonderheit dieser Spezialsammlung gebe es "nur wenige Publikationen" über sie, auf lange Sicht schwebt Gilbhard deshalb ein Bestandskatalog vor. Dass mal ein ganzes Kapitel aus dieser Kollektion ausgestellt wird, wie 1994die englische Buchkunst, ist allerdings höchst selten, "normalerweise werden eher einzelne Exemplare im Kontext einer Ausstellung gezeigt". Der neue Bibliothekar, der "ein gewisses Faible für Buchgestaltung" gesteht, will die Schätze besser erschließen. Selbst sammelt er aber keine Bücher, das findet er auch nur in Maßen sinnvoll, denn "alte Werke gehören in öffentliche Sammlungen, als fester Bestand, fachgerecht verwahrt und zugänglich".

An einem der verheißungsvollsten Orte der europäischen Geistesgeschichte hat der Kunsthistoriker und Philosoph seine Ausbildung absolviert: der Biblioteca Vaticana in Rom. Im Bereich der wertvollen Handschriften, alten Quellen und Drucke sei wohl kaum eine andere Bibliothek umfassender, sagt Gilbhard. In Italien gebe es viele intakte alte Bibliotheken, seufzt er, "aber irgendwann treiben einen die Arbeitsmöglichkeiten zurück nach Deutschland. Es ist so schade, dass Europa inzwischen so vollständig von der Ökonomie dominiert wird."

Am Museum für Kunst und Gewerbe hat Gilbhard eine halbe Stelle, die andere halbe widmet er dem wissenschaftlichen Projekt einer Aby-Warburg-Edition, zu der 1932 die ersten beiden Bände erschienen sind, danach erst wieder 1998: "Es gab einen großen Publikationsplan. Warburgs Mitarbeiter wollten seine Vorträge und Schriften veröffentlichen, aber das alles hat sich in den Wirren des Krieges zerschlagen."

Thomas Gilbhard ist ein offensichtlicher Fan des berühmten, in Hamburg geborenen Kulturwissenschaftlers Aby Warburg: "Das Londoner Warburg Institute funktioniert bisher als Freihand-Bibliothek. Es war seine Idee, mit einer neuen Art der Ordnung einen heuristischen Effekt zu erzielen. Das bedeutet, dass Warburg die Bücher nach dem Gesetz der guten Nachbarschaft ordnete. Er überschritt intelligent die üblichen Fächergrenzen, um neue Querverbindungen herzustellen. Ich finde es verblüffend, wie innovativ Aby Warburg als Wissenschaftsorganisator mit Bibliotheken umging."

Über solche Neuordnungen nachzudenken, sieht er ebenfalls als seine Arbeitsaufgaben in der Bibliothek des MKG an. Im Gegensatz zu der großen Schar der Technikgläubigen, die den baldigen Tod des Buches vorhersagen, findet der Bibliothekar: "Buchkunst ist das Gegenprogramm zum iPad. Denn kunstvolle Bücher sind immer gestaltet als materiale Objekte." Inzwischen hat Gilbhard die weißen Handschuhe übergestreift und einen mächtigen Folianten herausgeholt. Jetzt wird sehr deutlich, was er meint: Aufgeschlagen um die 80 Zentimeter breit, ist dieses Künstlerbuch im Lederumschlag mit seiner eleganten Schrift und der an der Linie orientierten Gestaltung schnell als ein Werk des Jugendstils erkennbar. Max Klinger hat hier um das Jahr 1894 eine Brahms-Fantasie mit kunstvollen, erzählenden Radierungen ausgestaltet. Nur 150 Exemplare sind damals davon gedruckt worden.

Ein weiteres Prachtstück, diesmal der englischen Buchkunst, bilden die üppig illustrierten Metamorphosen des Ovid: Hier haben William Morris, der Gründer der englischen Arts-&-Crafts-Bewegung, und der berühmte Symbolist Edward Burne-Jones zusammengearbeitet und ein geradezu schwelgerisch gestaltetes Meisterwerk geschaffen. In den Händen hält man einen geprägten Ledereinband mit Buchschließen und Goldschnitt, gedruckt auf handgeschöpftem Bütten, mit integrierten kunstvollen Kupferstichen und reich verzierten Initialen. Mit einer solchen Ballung von Kultur, Gestaltung und über die Jahrhunderte bewährten Materialien kann ein kleines glattes iPad wohl kaum mithalten. Soll es auch gar nicht. Es ist aber wichtig, dass solche Art hoch entwickelter; geistig durchdrungener Buchgestaltungskunst nicht in Vergessenheit gerät, gepflegt wird und hin und wieder auch öffentlich zu sehen ist. Betrachten kann man sie jedenfalls jederzeit. Nach Voranmeldung: bibliothek@mkg-hamburg.de