Der Jahrhundert-Architekt Oscar Niemeyer starb am Mittwoch im Alter von 104 Jahren. Das größte Projekt war Brasiliens Hauptstadt.

Berlin. Oscar Niemeyer sah sich selbst als Visionär. Der erste große Entwurf war seine Sache. Die Zeichnungen des brasilianischen Stararchitekten von weit gespannten Dächern und Gebilden, die unverkennbar der Ära des Raumschiffs Enterprise angehören, waren teilweise sehr vage und ließen Spielraum für Interpretationen - die Problemlösung im Detail überließ er gerne anderen. In gigantischem Maßstab bekam er dazu Gelegenheit, als sich seine Kontakte in der Politik und zu einflussreichen Persönlichkeiten auszahlten und Juscelino Kubitschek 1956 für fünf Jahre Staatspräsident wurde, der für seine Amtszeit "50 Jahre Fortschritt" versprach.

Das zweifellos größte Projekt Niemeyers, der am Mittwoch kurz vor seinem 105. Geburtstag in Rio de Janeiro gestorben ist, war die Umsetzung des bereits 1891 erfolgten Parlamentsbeschlusses, eine neue Hauptstadt zu errichten, die in der bis dahin wenig besiedelten Mitte Brasiliens entstehen und für 500.000 Einwohner ausgelegt sein sollte: Brasilia.

Niemeyer und Kubitschek begeisterten sich für überschäumend wilde Expression und für eine kurvenreiche, in Niemeyers Augen weibliche Baukunst, mit der er sich bei aller Verehrung deutlich von Le Corbusier und der klassischen Moderne absetzte. Die nächste Stufe der Utopien war "die schönste Hauptstadt der Welt", erschaffen im Nichts, "wie eine Blume in der Wildnis", so Niemeyer, als ein Gegenentwurf zur "erstarrten Melancholie der funktionellen Architektur".

Fernab jeder Zivilisation hatten angeblich alle Mitstreiter - Bauarbeiter ebenso wie Ingenieure und Planer - ein Bewusstsein von der einzigartigen Herausforderung, das keine Klassenunterschiede aufkommen ließ, wie Niemeyer oft erzählte. Diese kollektive Bewegung mit der fiebrigen Euphorie eines "wahren Kreuzzugs" (Niemeyer) schien vordergründig geradezu eine sozialistische Musterunternehmung, allerdings taten sich auch hier hinter den Kulissen Abgründe auf. Das Projekt aber erlangte trotz Konkurrenzdenkens und rücksichtslosem Ehrgeiz schon zu Lebzeiten des Architekten im Jahre 1987 den Status des Unesco-Weltkulturerbes.

Niemeyer verwandte fast ausschließlich das Material Beton und nutzte es für große architektonische Gesten. Der dynamische, futuristische Schwung seiner Bauten spiegelt sich auch im Gesamtplan der Stadtanlage Brasilias, die die Form eines Flugzeugs mit weit gespannten Tragflächen besitzt, das zwischen den beiden Ausläufern des Paranoa-Sees gelandet zu sein scheint. Im Cockpit des Fliegers, am Kopf der zentralen Achse, "sitzt" der Nationalkongress, flankiert vom Justiz- und Außenministerium und weiteren Regierungsgebäuden. An der Schnittstelle zwischen Flugzeugrumpf und Tragflächen liegen die Kathedrale, das Nationalmuseum und die Bibliothek sowie das Theater. Am 21. April 1960 wurde die neue Hauptstadt eingeweiht.

Mit der Fertigstellung Brasilias kehrte Niemeyer nach Rio zurück und erhielt nun auch vermehrt Aufträge aus Europa und Israel. 1957 entwarf er für die Internationale Bauausstellung in Berlin ein auf Betonstelzen gestelltes Hochhaus. In Paris gründete er eine Dependance seines Büros, was sich als sehr nützlich erwies, als er nach dem von den USA unterstützten Militärputsch Brasilien 1964 verließ. So baute er u. a. den Hauptsitz der Kommunistischen Partei Frankreichs und das Verlagsgebäude von Mondadori in Mailand. Seine Pläne für ein großes Spaßbad in Potsdam aus dem Jahre 2007 wurden allerdings nicht mehr verwirklicht.

Durch seinen spontanen Elan, mit dem er seine Aufträge anging und schnell erledigte, konnte er in seinem langen Leben mehr als 500 Projekte verwirklichen - nicht gezählt seine wenig ruhmvollen Plattenbauten. Damit schien sich der Architekt - überzeugt von der Flüchtigkeit der Existenz und daher entschlossen zu einem intensiven, sinnlichen Genuss des Lebens - auch das Überleben seines Andenkens sichern zu wollen. Denn von ihm stammt der Ausspruch, ein Architekt müsse 1000 Bauwerke bauen, damit eines 1000 Jahre überlebt. Dabei schien die Monumentalität Brasilias stets das Ideal zu verkörpern, das ihn sein Leben lang begleitete.