Das Nachkriegsdrama punktet mit der herausragenden Hauptdarstellerin Saskia Rosendahl und trotz aller Grausamkeit poetischen Bildern.

Im Laufe dieses Films sind Lores Hände immer wieder beschmutzt. Als hafte das Nazi-Regime, in dem sie wohlbehütet und linientreu aufgewachsen ist, unweigerlich an ihr. Ungläubig betastet die 15-Jährige die Bilder der KZ-Toten, die die Alliierten bei Kriegsende an deutsche Häuserwände kleben. Ihre Finger fahren durch den dickflüssigen Leim, der noch frisch auf den Schwarz-Weiß-Fotos von ausgemergelten Leichen liegt. Später trocknet diese Masse zur Kruste, die Lore abzupellen versucht. Die junge Frau ahnt, dass eine neue Zeit anbricht, die ihre Gewissheiten erschüttert. Sie will die brutale Wahrheit noch nicht wahrhaben, doch diese dringt bis tief unter ihre Haut.

Auf dem Hof einer Hitler verehrenden Bäuerin, die ihren Mann verloren hat, tropft das Tiefschwarz frisch gefärbter Trauerkleidung auf Lores Hände, sickert in ihre Poren. Kurz darauf, als sie das Foto des "Führers" gemeinsam mit einem Bild ihres Vaters in SS-Uniform vergräbt, setzt sich die Erde unter ihren Fingernägeln fest.

Es sind Details wie diese, die den Film "Lore" trotz all seiner Grausamkeiten zu einem poetischen Werk machen. Die australische Regisseurin Cate Shortland erzählt - nach Rachel Seifferts Roman "The Dark Room" - die Geschichte der ältesten Tochter eines ranghohen Nationalsozialisten. Die Eltern werden inhaftiert, während sich Lore allein mit ihren vier Geschwistern zur Großmutter durchschlagen muss.

Regisseurin Cate Shortland: „Das Watt ist eine magische Welt”

Auf dem Weg von Süddeutschland bis an die Nordsee geht Lores heiles, ideologisch durchtränktes Weltbild in die Brüche. Innerhalb weniger Tage entnazifiziert sie sich nicht nur selbst und sucht nach neuen Maßstäben, sondern sie muss zudem radikal erwachsen werden. Zweifel steigen vor allem in ihr auf, als der kaum ältere Thomas, der Jude zu sein scheint, der der Gruppe hilft. Gemeinsam kämpfen sie ums Überleben, um Essen, um einen Rest Menschlichkeit. Sie durchstreifen Wiesen und Wälder, die in ihrer Schönheit die Härte der Reise konterkarieren. "Lore" ist ein Aufbruch hin zu einer neuen Identität. Der einer Person und der eines Landes.

Überragend gespielt wird diese Figur im Transit von Saskia Rosendahl. Die Schauspielerin, 1993 in Halle geboren, verkörpert komplexe, konkurrierende Emotionen wie Trotz, Trauer, Angst und Scham, kindliche Unschuld und pubertäre Neugier sehr selbstverständlich und zugleich eindringlich.

Auch wenn Regisseurin Shortland ihre Metaphern vor allem zum Ende hin etwas zu überdeutlich in Szene setzt, wirkt die suggestive Kraft ihres Films doch noch lange nach. Verdient erhielt ihr Werk, das für Australien in der Kategorie "Bester fremdsprachiger Film" ins Oscar-Rennen geht, unter anderem den Kritikerpreis beim Filmfest Hamburg sowie den Publikumspreis des Locarno Film Festivals.

Bewertung: empfehlenswert

"Lore" Deutschland/Australien/Großbritannien 2012, 109 Min., ab 16 Jahren, R: Cate Shortland, D: Saskia Rosendahl, Kai Malina, Ursina Lardi, Eva Maria Hagen, täglich im Koralle, Passage; www.lore-derfilm.de