Bernhard Paul ist der Hüter einer aussterbenden Zirkuswelt. Aber im Circus Roncalli stützt ihn seine quicklebendige Familie.

Montag und Dienstag haben die Artisten des Circus Roncalli manegefrei. Das heißt aber nicht, dass der allgegenwärtige Bürgermeister dieser pittoresken "Kleinstadt in der Stadt" auf der faulen Haut läge. Müßiggang scheint in Bernhard Pauls Universum nicht vorzukommen. Denn er besitzt und leitet ja nicht nur einen ganz besonderen Zirkus, sondern er muss sich zugleich um ein kleines Imperium kümmern, zu dem unter anderem das Apollo-Varietétheater in Düsseldorf gehört; und die sicherlich weltgrößte Sammlung von Devotionalien unserer jüngeren Volks- und Lebenskultur aus dem späteren 19. und dem gesamten 20. Jahrhundert: In Pauls Kölner Hallen lagern unter anderem zigtausend Zirkusplakate, Straßenlaternen, Emaille-Reklameschilder und Litfaßsäulen, dazu mehr als 60 komplette Ladeneinrichtungen.

Paul nimmt am Kopfende des polierten Mahagonitisches in seinem Salonwagen Platz. Hier hat er schon vier Bundespräsidenten bewirtet und viele Berühmtheiten aus dem TV, Show- und Musikgeschäft. Jetzt sitzen hier seine drei Kinder Vivi, 23, Adrian, 21, und Lilly, 14 - "die Roncalli-New-Generation", wie Paul mit einem liebevollen Lächeln sagt.

Die Roncalli-New-Generation wartet gerade darauf, dass ihre Mutter Eliana das Mittagessen serviert. Spaghetti bolognese. Das Porzellan ist fein, das blank polierte Besteck ist es auch. Und von Anfang an ist klar, dass hier ein leibhaftiger Patriarch am Tisch sitzt, dem nichts verborgen bleibt. Obwohl Paul stets abstreitet, einer zu sein.

Aber seine Angestellten erzählen gern Geschichten wie diese: dass der Herr Direktor schon Sekunden nach seiner Ankunft in der umzäunten Zirkus-Wagenburg den Erstbesten auf eine Leiter hetzt, weil ihm beim Einparken unter den 10 000 heruntergedimmten Glühbirnen just diejenigen ins Auge gefallen sind, die kaputt sind oder flackern. Es heißt sogar, der Chef könne selbst "in Hunderten von Kilometern Entfernung spüren, wenn irgendein Detail seines Lebenswerks den Geist aufgibt, und sei es bloß eine Glühbirne".

Aber es ist Bernhard Pauls Detailversessenheit, die letztlich den Reiz, den Charme und damit auch den langjährigen Erfolg des Roncalli-Imperiums ausmachen. Dazu gehören die vierfarbig gedruckten Eintrittskarten ebenso wie die rot lackierten Papierkörbe, der Holzzaun und die aufwendig restaurierten Zirkuswagen - manche über 100 Jahre alt - bis hin zum Toilettenwagen, an dessen Eingang ein Schild auf die selbstverständlich kostenfreie Benutzung hinweist und "viel Vergnügen" wünscht. "Wenn die Leute in der Pause Getränke konsumieren", sagt Paul, "müssen sie ja auch die Möglichkeit haben, ihre Getränke wieder loszuwerden." Weil es ihm selbst niemals einfiele, für dieses menschliche Bedürfnis zu bezahlen, müssen es die Roncalli-Gäste auch nicht.

Aber das Geld spielt leider doch eine erhebliche Rolle, wenn man es sich wie Paul in den Kopf gesetzt hat zu zeigen, dass dem menschlichen Glück schon mit ein paar Lachern auf die Sprünge geholfen werden kann; dass die Welt für mindestens einen Nachmittag oder einen Abend ein bisschen schöner aussehen kann; und wenn man beweisen will, dass die ursprüngliche, authentische Zirkuskunst mehr ist als ein Salto mortale ohne Netz und doppelten Boden; dass sie auch viel mehr ist als ein Programm, das atemlos "Menschen, Tiere, Sensationen" verspricht.

Schon deshalb hat Paul mit seinem Roncalli-Projekt von Anfang an, seit 1976, auf Poesie gesetzt, auf ganz besondere Lichtstimmungen - und auf Originalität.

Der Titel der aktuellen Tournee - "Time is Honey" - lässt wieder auf ein bewusst entschleunigtes Unterhaltungsprogramm schließen. Es sind dann die geschickten Tempowechsel, die dafür sorgen, dass inmitten unserer sich immer schneller drehenden, reizüberfluteten Welt die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle bedient wird.

"Roncalli verhält sich zum Cirque de Soleil oder meinetwegen auch zum chinesischen Staatszirkus wie ein altes Wiener Kaffeehaus zu Starbucks", sagt Paul verschmitzt. Was keineswegs heiße, dass in der Roncalli-Manege bloß die dritte Gaukler-Liga jongliert und balanciert, ein paar lustige Späße macht und zwischendurch die Gesetze der Physik aus den Angeln hebt. Denn bei Roncalli erlebt das hochverehrte Publikum einige Weltstars aus der internationalen Artistenszene.

Da wäre zum Beispiel David Larible, der zurzeit "beste Clown der Welt" (und ganz nebenbei auch Bernhard Pauls Schwager), der seinen Wohn-wagen mit seinen Auszeichnungen und Preisen zweimal tapezieren könnte. Oder das bulgarische Kraftpaket Encho Keryazov, einer der größten Sportakrobaten. Oder "Katharina & Natalia", die fliegenden Frauen aus der ukrainischen Artistenschmiede Bingo, die bereits auf der ganzen Welt gefeiert wurden. Und mittendrin die neue Generation, der hochtalentierte Artistennachwuchs, zu dem inzwischen auch Bernhard Pauls Kinder gehören. Den Flaschenläufer Michael Ortmeier wiederum hat Paul bei "Wetten, dass ..?" gesehen und ihn noch am selben Abend am Telefon engagiert. Man muss halt immer die Augen nach neuen Talenten offen halten.

Dass sich auch seine Kinder nachhaltig in die zauberhafte Roncalli-Welt eingebracht haben, konnte nicht ausbleiben. Denn Pauls Frau Eliana entstammt einer großen italienischen Zirkusfamilie. "Bei unserem letzten Familientreffen", erzählt Pauls älteste Tochter Vivi, "hat Papa sich ein bisschen isoliert gefühlt. Da waren wir ja auch 500 Leute, und das war nur der engere Kreis!" Da habe er dann auch nicht so viel geredet und sein Essen ausnahmsweise mal warm genießen können.

In genau diesem Moment deutet Eliana Paul mit dem Finger auf seinen Teller: "Iss!" Bernhard Paul murmelt irgendwas von "Madre Madrone", nickt und dreht endlich einen Bissen Spaghetti auf seine Gabel, während seine Frau längst den Cappuccino anbietet.

Er habe seine Kinder nie dazu angeleitet oder gar gezwungen, in seinen Zirkusbetrieb einzusteigen, sagt er, hastig kauend und schluckend, das hätten die drei von sich aus getan. Manchmal mussten sie ihre eigene Leidenschaft sogar vor ihm verstecken. Weil sich Papa ständig Sorgen macht. "Zwei Jahre lang haben mein Bruder und ich an einer Rollschuhnummer gearbeitet", sagt die 14 Jahre alte Lilly, "aber immer nur nachts, wenn Papa geschlafen hat."

Hat er aber nicht. Hat sich bloß über die merkwürdig monotonen Geräusche gewundert, die regelmäßig gegen 2 Uhr morgens aus dem Zelt drangen. Einer, der durchgebrannte Glühbirnen aus ein paar Hundert Kilometer Entfernung spüren kann, weiß natürlich genau, was nebenan in der Manege vor sich geht. Aber er hat so getan, als hätte er keine Ahnung vom nächtlichen Treiben seiner Kinder. Weil es ihn insgeheim freute.

Und gefreut hat es ihn, weil er bald 66 wird. Und selbst ein nimmermüder Zirkusvirus-Infizierter wie er wünscht sich manchmal, zurückstecken zu können, ein bisschen jedenfalls. Außerdem ist es gut zu wissen, dass sich sein Lebenswerk langfristig in den besten Händen befinden dürfte. In den Händen seiner Familie.

Zwar sind da auch noch die lukrativen Nebengeschäfte - etwa der alljährliche Roncalli-Weihnachtsmarkt vorm Hamburger Rathaus, eine Gala hier, ein Weihnachtsgastspiel da, die Merchandising-Maschine. Dennoch weiß Bernhard Paul, dass sein Imperium auf fragilen Füßen steht. "Man muss sich manchmal schon fragen: Braucht der heutige Mensch überhaupt noch einen Zirkus?", sagt er.

Mit dem aktuellen Programm gibt er die Antwort selbst: In dem finden sich viele Reminiszenzen an die Bilder seiner Kindheit. Darüber hinaus möchte er "Time is Honey" als klares Statement gegen die allgegenwärtige Krise, gegen die Gier der Banken und gegen die moderne Lebenshektik verstanden wissen - und für das Schöne, die Lebenssüße, die Roncalli verkörpert und die Zuschauer regelrecht verzaubert.

Zum Glück sind die mageren Anfangszeiten vorbei, als Artisten gegen die Tür seines Wohnwagens bollerten, weil sie kein Geld fürs Essen hatten. Paul ist auch nicht mehr auf die Generosität von Freunden wie dem Kabarettisten Emil Steinberger angewiesen, der ihm gemeinsam mit zwei weiteren Schweizern nach der ersten, finanziell desaströsen Tournee Ende der 1970er-Jahre mit insgesamt 400 000 Mark die Existenz gerettet hatte. Denn der feinsinnige Steinberger hatte im Gegensatz zu den Banken gespürt, dass dieser Bernhard Paul einer der wenigen Zeitgenossen ist, die keine Sekunde zögern, seinen Lebenstraum zu erfüllen und dafür alles zu geben. "Hätte ich mein Geld verloren", soll Steinberger gesagt haben, "dann hätte ich wenigstens gewusst, wofür". Paul hat die Privatdarlehen längst zurückgezahlt, und für die drei Kapitalgeber war es letztlich eine gute Investition.

Auch in jenen dunkelsten Stunden, sagt Paul, habe er nie bereut, dass er seinen sicheren Job als Art Director des Nachrichtenmagazins "Profil" gekündigt hatte, um Zirkusdirektor und -besitzer zu werden, in Deutschland. Als Österreicher habe man, wie er witzelt, "eh nur zwei Möglichkeiten, Karriere zu machen: Entweder du wirst korrupt, oder du wanderst aus!" Inzwischen habe er sich wieder mit seiner Heimat Wien angefreundet. Und auch mit seinem ehemaligen Intimus André Heller, mit dem er viele Jahre lang zerstritten war, sei er wieder per Du. Mit Altersmilde hat das nix zu tun, im Gegenteil. Paul, der "aus tiefster Überzeugung niemals dem Zeitgeist nachhechelt", weiß, dass es noch viel zu tun gibt, um sein Lebenswerk und das Kulturgut Zirkus für die künftigen Generationen zu erhalten.

Dem stehe allerdings vor allem "dieser idiotische Bürokratismus" im Weg. Zum Beispiel die EU-Glühbirnenverordnung: "Für eine normale Glühbirne zahle ich 50 Cent, für eine Energiesparlampe zwischen 6 und 9 Euro - und dann schauen die auch grauslig aus", grantelt er. Deshalb habe er in seiner Kölner Halle vorausschauend "einen Jahrhundertvorrat an Glühbirnen" gebunkert.

Mühsam verdaut hat er inzwischen auch, dass er neulich für knapp eine halbe Million Euro alle Zirkus-wagen mit TÜV-konformen "Schnellläuferachsen mit Zweikreisbrems-system" ausrüsten musste, obwohl die historischen Hanomag-Zugmaschinen gerade mal mit Tempo sechs zu ihrem Standort rollen. "Als ich den Beamten vorschlug, die Fahrzeuge mit Oldtimerkennzeichen zu versehen, bekam ich die Antwort: 'Das können Sie machen, aber dann sind die Fahrzeuge gewerblich nicht mehr nutzbar!"

Erklärter Intimfeind Nummer eins ist zurzeit die GEMA mit ihrem neuen Musikrechte-Tarifsystem, das die mühsam wieder aufgebaute Varietészene in Deutschland ebenso mühelos wieder zerstören könnte. Statt 100 000 Euro solle er jetzt 700 000 Euro pro Jahr fürs Apollo in Düsseldorf bezahlen, sagt Paul. "Ein Varieté ist kein Musiktheater. Wenn es bei dieser Willkür bleibt, können wir die 20 deutschen Häuser auch gleich zusperren!" Als Sprecher der Varietévereinigung habe er "die allmächtige GEMA" jetzt wenigstens dazu bewegen können, "diese irrsinnige Forderung noch einmal zu überdenken".

Zu den bürokratischen Hindernissen zählt Pauls Meinung nach auch, dass die Zirkusse - wie etwa in Hamburg - nicht mehr selbst plakatieren dürfen, "obwohl sie das Werbeplakat sogar erfunden haben!" Doch die offiziell genehmigten Ankündigungen in den elektronisch gesteuerten Schaukästen der Stadtwerbung könne sich kein Zirkus leisten, der kleine Wanderzirkus schon gar nicht und der berühmte Circus Roncalli auch nicht. "Wie sollen die Leute denn erfahren, dass der Zirkus in der Stadt ist? Gaukler waren früher schon beim Volk beliebt, aber sie waren auch Vogelfreie, die man straflos erschlagen durfte ..."

Für sein Lebenswerk wird Bernhard Paul daher vermutlich bis ans Ende seiner Tage kämpfen. Immer im Sinne der Tradition und der Nostalgie, immer als Schützer und Archivar einer bedeutenden künstlerischen Tradition.

Seine wirkungsvollste Waffe ist dabei die zärtliche, bewegende und heitere Poesie, die zweimal täglich in der Roncalli-Manege aufleuchtet.

Sein Antrieb ist die disziplinierte Besessenheit. Als die Familie Paul fürs Foto am Eingang posiert, halten vorher erst einmal alle konzentriert Ausschau nach flackernden oder ausgebrannten Glühbirnen. Und seufzen erleichtert auf.

Plötzlich brummelt Bernhard Paul: "Da oben, im ersten S von Kasse, die sechste von unten, die ist ausgebrannt. Wie schaut das denn aus?!" Er hat natürlich recht, wie immer hat er recht. Aber ich schwöre es Ihnen: Bernhard Paul hat keinen Augenblick lang hingesehen.