Fünf Moorburger Jungs stachen 1935 auf ihrem kleinen Schiff in See - und fanden eine neue Heimat auf dem wilden Archipel im Pazifik.

Es ist Pfingstsonntag 1935. Die Nationalsozialisten haben vor mehr als zwei Jahren die Macht übernommen; längst hat sich das Deutsche Reich in eine Diktatur verwandelt. Von Abenteuerlust und Fernweh getrieben, stechen fünf Brüder von Harburg aus mit ihrem eigenen Schiff in See. Ziel ist das Galápagos-Archipel im Stillen Ozean, rund 1000 Kilometer vor der Westküste Südamerikas vor Ecuador im Pazifik gelegen. Die fünf Männer namens Fritz, Gusch, Hans, Heinrich und Karl, zwischen 17 und 24 Jahre alt, wollen sich einen Traum erfüllen. Sie ahnen nicht, dass es für drei von ihnen keine Rückkehr geben wird.

Trotz immenser Befürchtungen unterstützen die Eltern, Marie und Heinrich Angermeyer, den verwegenen Plan. Lieber sollen ihre Jungs in die Ferne aufbrechen, als sich von Hitler um ihre Zukunft bringen zu lassen. Das Ehepaar verkauft sein Haus am Hohlweg in Harburg, finanziert so die Aktion und zieht mit den Töchtern Anneliese und Helene in eine Wohnung nach Moorburg. Der Schlosser Heinrich, Mutter Marie und die beiden Mädels stehen am Elbufer, als das Quintett Segel setzt und Deutschland Tschüs sagt. Die Daheimgebliebenen wollen nachkommen, sobald die Brüder in Übersee sesshaft geworden sind. Im Bombenhagel der Alliierten werden diese Träume acht Jahre später begraben werden.

Der Hamburger Kapitän Otto Stöcker, ein Freund der Familie Angermeyer, hat die Auswanderer mit dem Reisefieber infiziert. Er hat von den wundersamen Inseln am Äquator erzählt und die fünf Brüder mit Seekarten sowie Literatur ausgerüstet. "Nehmt Gewehre, Werkzeug und Saatgut mit", rät der alte Fahrensmann, "da drüben gibt es nichts." Wohl wahr. Der Vorteil: Die reiselustigen Männer sind handwerklich beschlagen. So beginnt eine Odyssee, die erst zwei Jahre später auf Galápagos endet. Nur Heinrich, von Heimweh und Liebeskummer geplagt, bricht die Welttour vorzeitig ab. Das restliche Angermeyer-Quartett wird im Pazifik in der urzeitlichen Vegetation, mit Riesenschildkröten und den großen Fischvorkommen leben wie Robinson und ein Abenteuer nach dem anderen überstehen müssen.

Dass diese einmalige Geschichte mit Hamburger Wurzeln überhaupt festgehalten wurde, ist ein Verdienst des Fotografen und Autors Matthias Stolt aus Winterhude. Der 58-Jährige ist ein Großcousin der mittlerweile verstorbenen Brüder, ist dreimal auf das Archipel gereist und jetzt Herausgeber des Buches "Kurs: Galápagos". Stolt hat mit den Auswanderern gesprochen, Zeitzeugen befragt, Fotos gesichtet und Buch geführt. Vom ersten Kapitel an handelt diese Geschichte von Pioniergeist und Wagemut.

Das beginnt mit dem Schiff. Nach intensiver Suche kaufen die Angermeyers in Stralsund einen abgewrackten Zweimaster mit Ketschtakelung; der wird umgebaut, bekommt eine Galionsfigur und wird auf den Vornamen der Mutter getauft: "Marie". "Fritz war handwerklich am geschicktesten", erzählte Karl später, "Heinrich und ich waren eher künstlerisch veranlagt und kümmerten uns um den Anstrich und die Bemalung der Galionsfigur. Jeden Nachmittag nach der Schule trafen wir uns am Elbdeich und arbeiteten an unserem Schiff."

Aber dann erleidet die "Marie" vor England Schiffbruch: In Seenot müssen die Brüder den Hauptmast kappen, und weitere Schäden machen den Hanseaten klar, dass sie die Atlantikpassage so ganz gewiss nicht schaffen werden. Sie verkaufen die "Marie" für 4000 Pfund.

Monate verrinnen, das Geld wird knapp. Von Liverpool führt der Weg nach Dänemark: Im jütländischen Fredericia finden sie 1936 einen neuen Segler, die "Marie 2". Via Holland soll es losgehen, doch zwingen Unwetter auf der Nordsee zur Umkehr. Auch dieses Schiff wird verkauft. Im Frühjahr 1937 - Hein ist nach Hamburg zurückgekehrt - erstehen die übrigen vier Brüder Angermeyer Tickets und gehen an Bord des Ozeandampfers "Orbita". An Bord ist auch die niederländische Balletttänzerin Lizzie, die sich Hans geangelt hat. Die beiden heiraten in der ecuadorianischen Hafenstadt Guayaquil, dann geht es nach wochenlanger Wartezeit mit dem Versorgungsschiff "Manuel Cobus" in Richtung Academy-Bay auf Galápagos. Fast fünf Tage schaukeln sie über den Pazifik - "mit Indios, Soldaten und Hunderten von Gepäckstücken", so Karl. "Die Indios hatten Hühner, Ziegen und Schafe dabei." An Deck habe es ziemlich gestunken.

Am 27. Juni 1937, gut zwei Jahre nach der Abfahrt in Hamburg, betreten Fritz, Hans, Gusch und Karl endlich das Eiland Santa Cruz. Während das Deutsche Reich für den Weltkrieg aufrüstet, herrschen auf den 13 großen und den sechs kleinen Galápagos-Inseln friedliche Zustände. "Wir haben das Paradies gesehen", berichtet Karl Angermeyer seinem Cousin Matthias Stolt später. Gerade einmal zwei Dutzend Menschen leben auf Santa Cruz: Norweger, Briten, Spanier, Ecuadorianer und auch Deutsche. Wildschweine, Ziegen und Leguane laufen in Freiheit über den fruchtbaren Lavaboden. Allerorten gedeihen Papayas, Mangos und Orangen. Aus dem Boden graben die Neuankömmlinge Yucca-Knollen. Riesenschildkröten und Meeresfrüchte stehen erst später auf dem Speiseplan.

Der erste Schritt ist getan, einen Traum in die Tat umzusetzen. Aber der Traum muss hart erarbeitet werden. Strom, Zeitungen und Radio gibt es auf den Galápagos-Inseln nicht, Trinkwasser nur in Höhenlagen. Der alte Kapitän Stöcker hatte recht: Gut, dass die Männer ihre Robinsonade vorbereitet hatten. Sägen, Äxte, Hämmer, Spaten, Nägel und Schrauben leisten wertvolle Dienste. Mit vereinten Kräften bauen sie eine "Farm", eine Hütte aus Holz, Lianen und Segeltuch. Nach und nach kommen weitere Häuschen hinzu. Die Eltern Marie und Heinrich, das ist fest verabredet, wollen ja nachkommen, sobald die beiden Töchter in Moorburg eigene Familien haben.

Die Post braucht Monate von und nach daheim - mehr als 10 700 Kilometer -, kommt aber an. In Moorburg erfahren die aufgeregten Angermeyers von den Fortschritten ihrer Söhne in der Ferne. Diese füllen Segeltuchbeutel mit Seegras als Matratzen, backen Brot, verflüssigen Zuckerrohr als Süßmittel, trinken Kakteenwein und fangen Frischlinge für eine Wildschweinzucht. Alle paar Monate geht die "Manuel Cobus" vor Anker und liefert das Allernotwendigste. Vom Kriegsbeginn hören die Auswanderer nur auf Umwegen.

Aus Matazarno-Holz, das mit Wasserdampf gebogen wird, fertigen die Männer ein kleines Schiff, auf dessen Bug der Spitzname der Mutter steht: "Mimi". Auf der Suche nach sagenhaften Piratenschätzen, vor allem den in Vulkankratern gespeicherten Salzvorkommen, durchqueren die vier das Archipel: Plaza, Baltra, Santiago und die anderen Eilande. Gusch hat die Idee: "Wir könnten vielleicht den Klippfisch verkaufen oder gegen andere Waren eintauschen." Es ist der Start der Angermeyer-Klippfisch-Fabrikation. Sie fangen gewaltige Dorsche, bis zu zehn Kilogramm schwer, salzen sie und trocknen sie in der Sonne. Auf Santa Cruz wird die Ware getauscht, der Rest aufs Festland geliefert.

Das Geschäft läuft. Aber der Zweite Weltkrieg macht auch vor dem Paradies nicht halt: In Puerto Ayora gehen Soldaten an Land. Zudem bringt die Post erschütternde Nachrichten aus der alten Heimat. Erst stirbt Schwester Anneliese im Alter von 17 Jahren in Hamburg an Diphterie. Die Eltern werden Opfer des Bombenhagels über Moorburg. Auf Galápagos bricht eine Welt zusammen.

Nach und nach gibt das Trio seine Hütten und Farmen auf. Eine Zeit lang arbeiten die Brüder als Manager in einem Sägewerk auf dem Festland. Doch dann kommt Heimweh - nach Santa Cruz. Lizzie ist nach Holland heimgekehrt, doch hat jeder der vier Angermeyer-Brüder eine Frau gefunden - die Deutsche Marga, ihre Tochter Carmen, die gebürtige Russin Emma sowie Lucrezia aus Ecuador. Kinder kommen zur Welt; die Familie wird immer größer. Mittlerweile bevölkern sich die Galá-pagos-Inseln. Fritz, Gusch und Karl bauen gemeinsam neue Holzhäuser und wohnen in guter Nachbarschaft. Die Grundstücke werden ihnen von der Regierung offiziell überschrieben; fast alles geht seinen geordneten Weg. Jeder hat jetzt ein eigenes Schiff. Erneut wird Klippfisch auf den Markt gebracht.

Die Deutschen organisieren Musikinstrumente und erstellen einen Lehrplan für ihre Kinder. Karl wird erst zum Friedensrichter ernannt, später zum Kapitän der neuen Forschungsstation. Nach einer Reportage in der "Bunten" 1961 kehrt er für einige Wochen nach Deutschland zurück und hält Vorträge.

Aber er hasst festes Schuhwerk, Hemden und Anzüge. Im Pazifik fühlt er sich glücklicher. Fritz und Gusch werden alt, sie sehen ihre Heimatstadt Hamburg nicht wieder. Sie wollen es auch gar nicht. Zu weit weg, in jeder Hinsicht.

Immer mehr Natur- und Verhaltensforscher nutzen Karls Kenntnisse der Inseln und des Stillen Ozeans. Irenäus Eibl-Eibesfeld, Hans Hass, Jacques Cousteau und Heinz Sielmann kommen, auch Prinz Philip von England mit seiner Yacht "Britannia". Der norwegische Archäologe Thor Heyerdahl und Karl Angermeyer werden sogar Freunde. Mit einem Flughafen auf dem benachbarten Stützpunkt der US-Luftwaffe düsen mittlerweile auch Touristen in das Idyll im Pazifischen Ozean.

Karl stirbt 1988, Gusch 2004 und Fritz 2007 als Letzter der "Robinson"-Brüder. An die Geschichte, die vor mehr als 77 Jahren in Hamburg begann, erinnern heute auf Galápagos nicht nur die Nachfahren, sondern auch Hotels, Reisegesellschaften, Buchten und Plätze mit dem Namen Angermeyer. Und wer genau hinsieht, wird auch in Hamburg fündig: Marie und Heinrich Angermeyer und ihre verstorbenen Familienangehörigen sind auf einer Gedenktafel auf dem Friedhof der alten Moorburger Kirche verewigt.

"Kurs: Galpagos". Das abenteuerliche Leben der Gebrüder Angermeyer, Hg. Matthias Stolt, Edition Temmen, 152 Seiten, 94 Abbildungen, 19,90 Euro