Der gebürtige Hamburger Jürgen Vogel ist ein Charakterdarsteller. In seinem neuen Film “Gnade“ zieht es ihn in den kalten Schnee.

Hamburg. Wenn Jürgen Vogel eine Sache nicht mag, dann diesen Quatsch hier: ein Porträt über ihn, in dem steht, welche Filme er gern guckt und wie lang seine Kinder abends aufbleiben dürfen. Geben Schauspieler auf der Leinwand denn nicht schon genug von sich preis? Vogel spricht wie er spielt: immer geradeaus, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie er rüberkommt. Wenn er im Gespräch nicht antworten will, sagt er: "Das war auf jeden Fall krass, da haste recht." Pause. Freundliches, schiefes Grinsen. Oder gleich das volle Programm: das leicht scheppernde Jürgen-Vogel-Lachen, das klingt, als habe eine Blechdose einen Hustenanfall.

Anders in seinem neuen Film "Gnade", der in dieser Woche in die Kinos kommt. Mit brummbäriger Fassade stapft er zweieinhalb Stunden durch die nordnorwegischen Schneeböen. Vogel spielt Niels, einen Ingenieur auf einer Erdgasverflüssigungsanlage, der für den Job mit seiner Familie in eine kleine Stadt nördlich des Polarkreises gezogen ist, in der es im Sommer kaum und im Winter gar nicht hell wird. Niels ist keine Figur, der die Zuschauerherzen zufliegen. Er hat eine Affäre mit seiner Kollegin, löffelt abends stumm seine Suppe in sich hinein als wäre es schimmeliges Pfützenwasser und pampt seinen Sohn an. Ein Mann, mehr Maschine als Mensch, der sich erst ändert, als seine (von Birgit Minichmayr gespielte) Frau einen schrecklichen Unfall verursacht.

Vogel hat in seiner Karriere, die vor genau 20 Jahren mit dem Immer-noch-Kultfilm "Kleine Haie" begann, vielen beschädigten Figuren sein Gesicht gegeben: Verbrechern, Fremdgängern, emotionalen Krüppeln. "Mich interessieren Kinofiguren, die vielleicht nicht sympathisch sind, aber für die man eine gewisse Nähe empfindet. Weil sie uns daran erinnern, dass wir alle im Leben Fehler machen", sagt der 44 Jahre alte Schauspieler und zwirbelt sich in eine Art Schneidersitz auf den Sessel in der Hotellobby. Die alles und jeden verwertende Fernsehindustrie hat für das Phänomen Jürgen Vogel längst ein Etikett gefunden. Darauf steht: Authentizität. Mit seiner Rebellenattitüde und dem Schmuddelkindimage hat er es in die Oberliga der deutschen Schauspieler geschafft - und es gibt wohl niemanden, dem diese Tatsache ähnlich wurscht wäre wie Vogel selbst. Titelstorys? Roter Teppich? Nicht sein Ding. Genauso wenig wie das Herumdeuten an einer Filmfigur oder ein Philosophiecrashkursus über den eigenen Berufsstand.

Dabei sind seine Sätze manchmal unfreiwillig wahrer als die jener Kollegen, die dreimal nachdenken, bevor sie etwas sagen. "Man liest das Drehbuch, redet kurz mit dem Regisseur, aber auf keinen Fall zu lang. Sonst ist das gesamte Geheimnis verschwunden", sagt er. Und ja, es stimmt: In den Rollen von Jürgen Vogel glitzert oft ein Geheimnis, eine schön uneindeutige Note, die nicht ausformuliert und in der Schwebe gehalten wird. Wie bei allen großen Schauspielern schert er sich nicht um die Kamera, die Kamera schert sich um ihn. So etwas darf man Vogel natürlich nicht sagen, zumindest nicht, wenn man eine brauchbare Antwort erwartet. Stattdessen schenkt er Tee nach, wacht darüber, dass die Teeblätter exakt fünf Minuten das heiße Wasser berühren, ordert Honig nach.

Wenn es um die realen Dinge des Lebens geht, und sei es nur das richtige Getränk, ist der Mann in seinem Element. Ein Machertyp. Der heiterste unter all den Schauspielgrüblern.

Wie trifft er seine Rollenentscheidungen? "Ich habe immer nur Sachen gemacht, auf die ich Bock hatte. Oder ich brauchte extrem dringend Geld." Irgendetwas, das er auf keinen Fall spielen würde? "Ich kann mir alles vorstellen. Wenn es gut ist." Was lockt bei seinem neuen Film die Menschen ins Kino? "Du kannst den Zuschauern ja kein Eis versprechen, damit sie ins Kino gehen. Du musst einfach hoffen, dass es ein Publikum für diesen Film gibt."

"Gnade" von Regisseur Matthias Glasner, der bei der Berlinale im Wettbewerb lief, ist ein Film, der dem Zuschauer das Denken nicht abnimmt. Es geht um Schuld und Vergebung, um Liebe und Tod, Schritt für Schritt wird eine neue Facette der Geschichte freigelegt. Den Mut, den Jürgen Vogel in seinen Filmen beweist, lässt sich auch in "Gnade" beobachten. Die Hälfte seiner Sätze muss er auf Englisch sprechen, was er ganz offensichtlich überhaupt nicht beherrscht. Andere hätten dankend abgelehnt, Vogel buchte nicht einmal eine Stunde bei einem Nachhilfelehrer. Er macht's halt auf die typische Jürgen-Vogel-Art. Ebenso gab er trotz dürftigen Gesangstalents vor ein paar Jahren den Sänger einer Band in Lars Kraumes "Keine Lieder über Liebe" - und nahm gleich noch die Platte zum Film auf, wenn schon, denn schon.

Vogel wurde in Hamburg-Altona geboren, wuchs in Schnelsen auf und zog im Alter von 15 Jahren zu Hause aus. Heute lebt er in Berlins Familien- und Szeneviertel Prenzlauer Berg, wo er, wenn er nicht dreht, "ganz normale Sachen" macht: "Essen, Sport, mit den Kindern spielen, Spielplatz. Auf den Spielplatz gehe ich gern."

Je länger man sich mit Jürgen Vogel unterhält, der viel lieber über Erkältungsrezepte und amerikanische Serienhits ("Californication"!, "The Shields"!! "Breaking Bad"!!!) reden würde als über den Zustand des deutschen Kinos im Allgemeinen und typische Vogel-Rollen im Besonderen, desto mehr wünscht man sich, es würde mehr Charakterdarsteller wie ihn geben. Die Mut haben, Drahtseilnerven und den unbedingten Wunsch, dem Kino etwas Neues abzuringen.

Und weil er mit Blick auf die Uhr (Interviewzeit ist bald um) plötzlich richtig gute Laune bekommt, erzählt Vogel noch von seinem Lieblingsfilm, "Bad Lieutenant" von Abel Ferrara. Den sahen, als er Anfang der 90er-Jahre in die Kinos kam, knapp 200 000 Menschen. Vogel war geschockt. "Seither weiß ich: Für die Art Filme, die ich machen will, wird es nie mehr als 200 000 Zuschauer geben. Also muss ich mit denen zufrieden sein."

Nach einem Gespräch mit ihm hat man das Gefühl, dass das Leben nicht halb so kompliziert ist, wie viele es sich machen. Jürgen Vogel jedenfalls dreht einfach den nächsten Film. Der Rest findet sich.