Der Gewinner ist: Herr Mo aus Shandong. Der Literatur-Nobelpreisträger Mo Yan gilt als Erzähler des Lebens kleiner Leute.

Stockholm/Hamburg. In einem Roman Mo Yans geht es unter anderem um eine hochschwangere Frau, die sich erhängt, als die Wehen einsetzen. Kann man sich eine drastischere Szene vorstellen? Dieser Roman aus der chinesischen Provinz, der den Titel "Die Knoblauchrevolte" trägt, schildert nicht nur eine Krise in der Knoblauchanbauregion in Gaomi - sie bricht zusammen, als der kommunistische Staat als Abnehmer ausfällt. Er erzählt auch die Geschichte einer Familie, die den Repressionen durch die Obrigkeit ausgesetzt ist und im Denken in alten, überholten Traditionen verhaftet ist.

Mit schlimmen Konsequenzen. Die schwangere Frau, ihr Name ist Jinjü, begehrt mit ihrem Freitod gegen die Entscheidung auf, sie mit einem Mann zum Vorteil der Familie zu verheiraten. Mo Yan, aufgewachsen in Shandong, gilt als radikaler Berichterstatter des Lebens der kleinen Leute in der chinesischen Provinz, und Mo Yan bekommt auch dafür den Literatur-Nobelpreis 2012.

Als Peter Englund, der Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, den Preisträger gestern um 13 Uhr verkündete, waren zumindest manche nicht überrascht. Zu oft war der Name des 57-Jährigen in den Tagen vor der Bekanntgabe genannt worden. Mo Yan sei ein Autor, der "Volkssagen, Geschichte und Gegenwart mit halluzinatorischem Realismus verschmelze", heißt es in der Begründung der Jury.

Dass Mo Yan zu den wichtigsten chinesischen Autoren der Gegenwart zählt, ist hierzulande auch nicht nur den Experten geläufig. Bekannter wurde der Schriftsteller, der 1955 mit seinem richtigen Namen Guan Moye in einem Bauerndorf geboren wurde, mit der Verfilmung seines Romans "Das rote Kornfeld", der vom japanisch-chinesischen Krieg handelte.

Dann war da noch der Skandal auf der Frankfurter Buchmesse vor drei Jahren: Damals verließ Mo Yan mit der offiziellen chinesischen Delegation aus Protest gegen die Teilnahme von Dissidenten an einem Literatursymposium den Saal. Weil China wegen Menschenrechtsfragen und westlichen Forderungen nach mehr Demokratie sowieso argwöhnisch beäugt wurde (und wird), beschimpften einige Mo Yan als Staatsdichter. Und tatsächlich gilt er, Gesellschaftskritik mit den Mitteln der Literatur hin oder her, nicht als Gegner des Regimes, aber auch nicht als angepasst. Nach dem Exilautor Gao Xingjian im Jahr 2000 ist er erst der zweite Chinese, der den Literaturnobelpreis erhält. Und der Gegenentwurf zu Liao Yiwu. Der Autor von "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten" lebt gegenwärtig in Deutschland.

Die Bücher des seit seiner Lesung auf dem Harbour Front Literaturfestival im Jahr 2011 auch in Hamburg bekannteren Autors sind in China verboten. Liao Yiwu musste 1990 wegen seiner Texte für vier Jahre ins Gefängnis. Am Sonntag erhält er in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels - ein interessanter Doppelklang der chinesischen Literatur also. Es gab schon Nobelpreise, die einzig aus politischen Gründen verliehen wurden, und auch gestern stand der Verdacht im Raum: Die Entscheidung wurde von vielen als chinafreundlich aufgefasst. Peter Englund verwies entschieden darauf, dass das Politische zweitrangig sei: "Dies ist kein politischer Preis, er wird für literarische Verdienste vergeben. Eine andere Sache ist, dass Mo Yan als Autor ein soziales Pathos hat. Er schreibt über ganz normale Menschen, die um ihr Dasein und ihre Würde kämpfen. Aber wir bewerten das literarisch."

Mo Yan selbst will sich auch in erster Linie als Künstler sehen - und sich in keine Schublade stecken lassen. Sein Verhalten in Frankfurt, als er nicht etwa die politische Führung seines Landes düpierte und einfach auf dem Podium sitzen blieb, rechtfertigte er damals mit der Tatsache, dass er sein Gehalt vom Kulturministerium, also vom Staat, beziehe und darüber sozial- und krankenversichert sei.

Kritiker halten Mo Yan vor, er habe sich für den Menschenrechtler Liu Xiaobo, der 2010 den Friedensnobelpreis erhielt und im Gefängnis sitzt, nicht genug eingesetzt.

Ein Werk verhält sich, könnte man sagen, immer irgendwie zu den Herrschenden und den Umständen. Das ist im Falle eines chinesischen Autors, in dessen Land Umwälzungen stattgefunden haben, gar nicht anders möglich. In seinen Büchern - auf Deutsch liegen bislang fünf Werke Mo Yans vor - zeigt sich der Chinese als durchaus kritischer Geist, und in Frankfurt äußerte er sich auch über die Aufgabe von Literatur: Sie müsse die "heißen Themen" einer Gesellschaft aufnehmen, sagte Mo Yan da, wichtig seien Vielfalt und Individualität.

In einem Interview mit der "Frankfurter Rundschau" sprach er einmal über die Zwangsschriftstellerei zu Zeiten der Mao-Revolution und berichtete von den neuen Freiheiten der Reformzeit: "Heute schreiben wir, wie wir wollen: über die Politik und die Gesellschaft, das Leben und die Liebe, Gewalt und Sex."

Seine erzählerische Potenz hat er in seinen teilweise voluminösen Romanen bewiesen, ästhetisch bezieht er sich auf den "magischen Realismus" der südamerikanischen Autoren.

Gegenüber der Nachrichtenagentur China News Service äußerte Mo Yan sich gestern bescheiden: "China hat viele großartige Schriftsteller, die auch dazu befähigt sind, von der Welt anerkannt zu werden." Große Freude herrschte beim Berliner Suhrkamp-Verlag. Dort erschien zuletzt "Die Sandelholzstrafe", das als einer seiner besten Romane gilt. Und der Hanser-Verlag bestätigte gewissermaßen wieder seinen Ruf als Nobelpreis-Verlag. Im Februar erscheint dort Mo Yans Roman "Wa" ("Frösche") auf Deutsch. Er handelt von der chinesischen Ein-Kind-Politik. Zuletzt waren in schöner Regelmäßigkeit Hanser-Autoren wie der letztjährige Preisträger Thomas Tranströmer oder Orhan Pamuk (2006) ausgezeichnet worden. Mo Yans Stammverlag im deutschsprachigen Raum ist der kleine Zürcher Unionsverlag.

Ob Mo Yan am 10. Dezember nach Stockholm reisen wird, um den mit 925 000 Euro dotierten Preis entgegenzunehmen, ist laut eigener Aussage noch nicht klar. Er wolle sich jetzt zunächst auf seine neue Arbeit konzentrieren, sagte er gestern. Er werde die weiteren Hinweise und Vorbereitungen des Nobelkomitees abwarten, um zu sehen, "ob ich nach Schweden gehe, um den Preis entgegenzunehmen". Dies ist vor dem Hinterrund interessant, dass es ja auch stets eine Nobelpreis-Rede gibt - dort könnte sich Mo Yan zu der Lebenswirklichkeit in China äußern.

Für regimetreue Chinesen ist Mo Yan übrigens der erste Nobelpreisträger. Der Exilautor Gao Xingjian und Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo werden bewusst ignoriert.

Drei von Mo Yans Romanen, die auf Deutsch vorliegen: "Die Knoblauchrevolte" (1989), "Die Schnapsstadt" (1993), "Der Überdruss" (2008)