Ursula Krechel erhält für ihren geschichtsgesättigten Roman “Landgericht“ den Deutschen Buchpreis 2012. Eine gute Entscheidung

Frankfurt/Hamburg. Eine Entscheidung, mit der sich gut leben lässt: Die Schriftstellerin Ursula Krechel erhält den Deutschen Buchpreis 2012. Das gab die Jury gestern Abend im Frankfurter Römer bekannt. Ausgezeichnet wird sie für ihren Roman "Landgericht", der tief in die Vergangenheit des modernen Deutschland zurückgeht und dort erkundet, warum sich die durch den Nationalsozialismus geschlagenen Wunden niemals schließen konnten.

Der Deutsche Buchpreis ist insgesamt mit 37 500 Euro dotiert, von denen die Siegerin 25 000 Euro erhält. Neben Krechel standen Clemens J. Setz ("Indigo"), Stephan Thome ("Fliehkräfte"), Ernst Augustin ("Robinsons blaues Haus"), Ulf Erdmann Ziegler ("Nichts Weißes") und Wolfgang Herrndorf ("Sand") im Finale.

Es ist ein geschichtsgesättigtes Werk, mit dem es der Leser bei "Landgericht" zu tun bekommt: eine Mixtur aus Dokumentation und Fiktion. Erzählt wird die tragische Lebensgeschichte des Richard Kornitzer, des in Breslau geborenen Berliner Richters, der auf dem Papier jüdischen Glaubens ist. Deshalb emigriert er 1939 nach Kuba, um seiner Ermordung zuvorzukommen. Die Kinder Georg und Selma werden nach England geschickt, die Ehefrau Claire, in den Worten der Nazis Arierin, bleibt in Berlin, später zieht sie an den Bodensee. So ist die Familie auseinandergerissen. Beinah ein Jahrzehnt hat sie sich nicht gesehen, als Kornitzer 1947 nach Europa zurückkehrt.

Er findet ein Land vor, das wieder auf die Beine zu kommen sucht und so viele Deutsche wie möglich entnazifiziert. Kornitzer, ein Opfer der Nazis, wird Direktor des Landgerichts in Mainz. Aber nicht glücklich: Nachdem die Kinder jahrelang nichts von den Eltern gehört und sich in England eingelebt haben, sind sie ihnen und Deutschland entfremdet. Der Sohn bleibt gleich in England, die Tochter hält es nur wenige Monate in Deutschland aus. Und Kornitzers Frau ist krank. Sie wird nicht allzu alt, und Kornitzer ficht ihre Sache mit dem Nachfolgestaat des Unrechtsregimes aus: Wenn er jetzt um eine Entschädigung für seine Frau kämpft, die in Berlin mehr oder weniger enteignet wurde, kämpft er für sein eigenes Heil, aber am Ende doch nur um eine irgendwie geartete Wiedergutmachung für sein verpasstes Leben. Er ist ein ewig fremder, von seinen Kindern getrennter und verbitterter Mann.

"Bald poetisch, bald lakonisch zeichnet Krechel präzise ihr Bild der frühen Bundesrepublik - von der Architektur über die Lebensformen bis hinein in die Widersprüche der Familienpsychologie", heißt es in der Begründung der Jury und weiter: "'Landgericht' ist ein bewegender, politisch akuter, in seiner Anmutung bewundernswert kühler und moderner Roman".

Letzteres stimmt vielleicht, wenn man es auf die Form bezieht: Weite Teile des Romans werden im Chronistenstil erzählt. Die Distanz dieser Erzählweise ergibt sich aus dem Blickwinkel der Hauptfigur: Sie kann sich dem Land, das sie vertrieb ("Der Volkskörper eiterte ihn heraus, er war Fremdkörper, sein Körper war schutzlos"), nie wieder ganz anvertrauen, sie begegnet ihm mit den Abwägungen, Ansprüchen und Einordnungen des Juristen.

Die Entscheidung der Jury, nicht etwa dem experimentellen Postmodernisten Setz den Preis zu geben oder dem Surrealisten Ernst Augustin, ist als solche konservativ. "Landgericht" ist, in manchen Momenten, auch Geschichtsstunde. Die gebürtige Triererin Krechel, Jahrgang 1947, recherchierte jahrelang in den Archiven des Landes Rheinland-Pfalz, denn den Richter, der trotz anständiger Karriere seines Lebens nicht froh wurde, gab es wirklich. Man kann die Diktion, in der Krechel die schmerzhafte Emigration und die ebenso schmerzhafte Wiederkehr beschreibt, trocken finden; aber ist das nicht, nun ja, authentisch?

Das Bild, das die Nachgeborenen von der Nachkriegszeit im Kopf haben, ist das eines verstockten, schweigsamen, eines verdrängenden und manchmal eben auch dumpfen Landes, in dem unter der Oberfläche des Wiederaufbaus tiefer Groll und hilflose Vergeblichkeit lagerte.

Wie Krechel von der Unmöglichkeit erzählt, an Altes anzuknüpfen und den Diebstahl eines bürgerlichen Familienlebens rückgängig zu machen - das ist beeindruckend. Und, so banal und pädagogisch das auch klingen mag: Die Geschichten von früher (die sich ja auch in denen von heute spiegeln: in den Vertreibungen der Jetzt-Zeit) hören nicht auf, wichtig zu sein. Wer Krechels Roman "Landgericht" liest, der erfährt, wie es gewesen ist, als die Deutschen schuldig wurden.

Schade ist es vielleicht um "Nichts Weißes", den fulminanten Roman von Ulf Erdmann Ziegler. Der spielt auch in der alten Bundesrepublik, streift die NS-Vergangenheit aber nur am Rande. Er erzählt eine nach vorne gerichtete Technikgeschichte und den Bildungsroman der Stenografin Marleen Schuller - und ist optimistischer. Erdmann Ziegler hätte den Preis auch verdient gehabt; wobei Krechel für einen größeren Teil des Publikums interessant sein könnte. Krechels Werdegang ist ungewöhnlich. "Landgericht" ist erst ihr zweiter Roman. Vorher trat sie mit 13 Gedichtbänden in Erscheinung.