Zum Eröffnungsfilm “Valley of Saints“ des 20. Filmfests kamen US-Star Willem Dafoe, Regisseur Akin und Bürgermeister Scholz.

Willem Dafoe mogelte sich am roten Teppich vorbei, den Blick beinahe schüchtern gesenkt. Der US-Schauspieler, der derzeit in Hamburg für die John-Le-Carré-Verfilmung "A most wanted man" vor der Kamera steht, war so etwas wie der heimliche Stargast bei der Eröffnungsgala des 20. Filmfests Hamburg, die sich ansonsten wie ein üppiges Familientreffen der Hamburger Filmszene ausnahm: Lisa Martinek und Pheline Roggan hatten trotz des kühlen Herbstwetters tapfer zum kurzen Kleid gegriffen, Peter Heinrich Brix lächelte in Handykameras, Fatih Akin schlüpfte hinter Volker Lechtenbrink und Hark Bohm in den mit rund 1000 geladenen Gästen gefüllten Kinosaal am Cinemaxx Dammtor. Popcorn-Eimer und das übliche Knabberzeugs für den Kinobesuch hatte Filmfestleiter Albert Wiederspiel für diesen Abend übrigens ausdrücklich untersagt. Kein Knistern sollte die Deutschlandpremiere von "Valley of Saints" stören.

"Bei aller Konkurrenz der verschiedenen Medien um unsere Aufmerksamkeit bleibt ein Kinobesuch ein emotionales, oft lange nachklingendes Erlebnis mit - wie dem heutzutage so oft beschworenen - Ereignischarakter", sagte Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz in seiner Begrüßungsrede. Deshalb sei ihm auch um die Zukunft des Kinos "nicht bang". Festivalleiter Wiederspiel sprach von einem "gewissen Fernweh, das uns getrieben hat, Filme aus Ländern und Orten zu suchen, die man sonst nicht zu sehen bekommt".

Kein zweiter Festivalleiter in Deutschland hätte die Traute, einen so kleinen, regional entlegenen, entschieden unglamourösen Independent-Film wie "Valley of Saints" aufs Programm der glamourösen Eröffnung seiner Filmtage zu legen. Wiederspiel aber gab mit dieser Wahl nicht nur seiner Neigung zum Politischen auf der Leinwand nach. Er folgte gewiss auch seinem Instinkt. Immerhin gewann das Spielfilm-Debüt des Regisseurs Musa Syeed auf dem vom Robert Redford gegründeten Sundance-Festival in Utah 2012 einen Publikumspreis. So total egal scheint es auch Bewohnern am anderen, reichen Ende des Planeten also nicht zu sein, wie Menschen am Dal-See in der indischen Provinz Kaschmir leben, lieben und notgedrungen erwachsen werden.

"Valley of Saints" ist Bollywood mit den kargen Mitteln des Dokumentarkinos. Sein emotionales Zentrum ist eine Art Dreiecksgeschichte: Die fast kindliche, unbefangen von allen sexuellen Konnotationen auch körperliche Nähe zweier Freunde aus Kindertagen steht plötzlich auf dem Prüfstand, als der eine von beiden sich scheu und chancenlos in eine vergleichsweise intellektuelle junge Frau verliebt. Die das Trio umgebende Realität ist nah der Wirklichkeit abgeguckt. Der Wasserqualität des Dal-Sees mit seinen Inseln und den auf ihnen überwiegend illegal errichteten Unterkünften gilt das Forscherinteresse der jungen Asifa (Neelofar Hamid).

Während der Dreharbeiten bestand wegen politischer Unruhen eine teilweise Ausgangssperre rund um den See, die immer wieder durchbrochen wurde und gewaltsame Auseinandersetzungen provozierte. "Manches davon haben wir gefilmt", erzählte Syeed, "manches ist Archivmaterial. Einiges habe ich bei meinem ersten Aufenthalt dort aufgenommen."

Der Regisseur trägt zwar einen kaschmirischen Namen, und am Dal-See hielt ihn jeder vom Aussehen her für einen Einheimischen. Musa Syeed aber ist 1984 in Bloomington im US-Bundesstaat Indiana geboren. Sein Vater war in seinem Heimatland politisch verfolgt, saß im Gefängnis, floh in den 70er-Jahren mit seiner Frau aus Kaschmir in die USA und entschied sich, mit seinen sechs Kindern nie in der Sprache seiner Peiniger zu sprechen. Als Erwachsener wollte Syeed dann doch das Land der Vorfahren kennenlernen.

"Valley of Saints" nun ist das Ergebnis der intensiven monatelangen Feldstudie des gelernten Dokumentarfilmers Syeed im Vertrauengewinnen. Die beiden männlichen Hauptdarsteller, die Syeed am Dal-See fand, sind Laien. Gulzar und sein Film-Freund Afzal (Afzal Sofi) sahen ihren Film gestern Abend in Hamburg erstmals auf der großen Leinwand.

Wer ganz spitzfindig sein will, könnte annehmen, "Valley of Saints" habe den Sundance-Publikumspreis auch deswegen gewonnen, weil Syeeds komplette weitläufige Verwandtschaft, die gewiss manche Kinoreihe füllt, nach Utah angereist kam. Aber warum auch nicht: Als Musa Syeed nach der Vorführung seinen Vater in die Arme nahm, sah er ihn weinen. Zum ersten Mal in seinem Leben.