Lena strauchelt beim Reeperbahn-Festival. Studio Braun glänzt mit “Fraktus“, einer Satire auf das aktuelle Gebaren der Musikindustrie ab

Hamburg. Man könnte das Reeperbahn-Festival auch Rein-Raus-Festival nennen: Während am Donnerstag eine lange Schlange vor dem traditionell überfüllten Molotow steht, um irgendwie zum Auftritt der britischen Indie-Rockband 2:54 zu gelangen, verlässt gleichzeitig ein steter Strom das Schmidts Tivoli, wo Lena Meyer-Landrut nach dem Auftakt mit einem neu arrangierten "Taken By A Stranger" ihren "Mr. Arrow Key" besingt.

Es ist ihr zweites Lied am Abend, aber viele Festivalgäste, Journalisten und internationale Labelvertreter haben schon genug gesehen. "Verdammte Axt, das war nix", knurrt ein Besucher. Vielleicht sind es Lenas plan- und haltlose, kaum verständliche Ansagen oder ihre nervöse Hyperaktivität. Die Live-Generalprobe der Lieder ihres kommenden dritten Albums "Stardust" geht - vor 600 Neugierigen und einigen Jubelfans in den ersten Reihen - eher daneben. Die Neuerfindung, die Loslösung vom System Stefan Raab in einem hippen Umfeld misslingt. Von musikalischer und persönlicher Reife, die sich am 12. Oktober auf "Stardust" in von ihr mit Rosi Golan und Miss Li geschriebenen Songs zeigen wird, ist im Tivoli leider wenig zu spüren.

"Man muss auch mal zulassen, wenn eine Eurovision-Song-Contest-Gewinnerin neue Wege gehen will", sagte Festival-Chef Alexander Schulz im Vorfeld. Ja, kann man machen. Aber einen Gefallen hat man ihr nicht getan. Denn schon der Donnerstag zeigt, wie sorgfältig und leidenschaftlich sich Schulz, seine Festival-Booker und Kuratoren, Plattenlabels und Exportbüros auf den dreitägigen Musik-Marathon vorbereitet haben. Die Klubs sind voll, die Besucher begeistert.

Da sind Mina Tindle aus Frankreich und ihre Band im Café Keese, die mit wenigen akustischen und elektronischen Mitteln Folk-Pop aufblättern wie eine riesige, patentgefaltete Schatzkarte. In jedem Takt sind feine Details versteckt. Da ist das hundsgemeine, Testosteron wie Pfefferspray versprühende schwedische Power-Trio Satan Takes A Holiday, das mit seinem lederjackenspeckigen Rock über den Planet Pauli herfällt wie die Wikinger über angstzitternde Mönche. Gnadenlos, brutal und doch faszinierend. Den schwedischen Kontrast bietet Karin Park, die bei gleich drei Auftritten nur einen Bären von Schlagzeuger sowie Keyboard und Synthesizer braucht, um ihre unfassbar variable Stimme zu entfesseln.

Und mit jedem weiteren Konzert, jeder weiteren von 290 Bands aus 23 Nationen wird deutlicher werden, wie deplatziert die auch international bekannteste Künstlerin des Reeperbahn-Festivals auf dem Kiez wirkt, wie groß noch der Abstand zwischen Lenas Wollen und dem Können der anderen ist. Die sympathische Schweizer Formation The Bianca Story überträgt ihren Ideenreichtum bei fünf Festival-Auftritten ebenso lässig wie in den legendären Abbey-Road-Studios, wo das zweite Album "Coming Home" entstand. Die britische Rap-Soul-Brumme Speech Debelle ist im Docks authentisch direkt wie die Straßen Londons. Es sind Künstler, die sich nicht neu erfinden müssen, die sich längst gefunden haben und nur noch darauf warten, entdeckt zu werden. Und sei es nur für einen Augenblick. Rein. Raus. Reeperbahn.

Allerdings kann auch eine Neuerfindung zu einem echten Festival-Highlight werden. Ein Beispiel aus Hamburg ist Fraktus. "Ist das eine Band?", fragte manch einer am Einlass. Ja, sogar eine Bandlegende. Allerdings eine fiktive. Ausgedacht haben sie sich Hamburgs Krawallhumoristen von Studio Braun. Rocko Schamoni, Jacques Palminger und Heinz Strunk wissen, was des Volkes Untergrundseele fühlt. Und liefern in der von Lars Jessen gekonnt fernsehästhetisch in Szene gesetzten Dokumentation "Fraktus" (Filmstart im November) eine grenzüberschreitende Satire auf das aktuelle Gebaren der Musikindustrie ab, die das Publikum zur Weltpremiere im Uebel & Gefährlich enthusiastisch begrüßte.

Die Fraktus-Lüge ist perfekt inszeniert. Einspieler zeigen "Bravo"-Unsinns-Interviews der angeblichen Techno-Pionierband. Branchengrößen wie Yellos Dieter Meier und Scooters H.P. Baxxter rühmen wortgewandt die Legende. "Zum Zeitpunkt, als das rauskam wusste man noch gar nicht, wie large das eigentlich ist", sagt Jan Delay.

Die Glaubwürdigkeit ist spätestens dahin, als Musikproduzent Roger Dettner (Devid Sriesow) auftaucht. Er will das Trio 29 Jahre später zu einem Comeback wiedervereinen und spürt Dirk Eberhard Schubert (Schamoni mit Schauspielqualitäten) auf, der den Internetshop "Surf'n'Schlurf" betreibt. Er trifft den Eurodisco-Produzenten Torsten Bage (Strunk als DJ Ötzi-Parodie) auf Ibiza und den Optiker Bernd Wand (Palminger), der mit den Eltern eine Hobbyband unterhält. Ausgerechnet der Wilhelmsburger DJ und Produzent ("Bro'Sis") Alex Christensen, der hier viel Selbstironie beweist, soll die Truppe hittauglich trimmen. Geht natürlich schief. Ist aber ein großer Spaß.

Zumindest auf der Bühne findet Fraktus tatsächlich zusammen. In ihren blinkenden Helmen und Overalls präsentiert sich das Trio als entschleunigte, etwas alberne Version von Deichkind. "Affe sucht Liebe", singt Rocko Schamoni, "sonst geht Affe tot". Mehr Rock'n'Roll kann man am ersten Festivaltag nicht erwarten.

Reeperbahn-Festival Tagestickets für Sonnabend zu 35,- an den Tageskassen Spielbudenplatz, Große Freiheit 36 und Knust, www.reeperbahn-festival.com