Gastspiel “West Side Story“ an der Staatsoper bleibt dem Original treu - und begeistert. Jerome Robbins choreografierte den Klassiker.

Hamburg. Wenn sich nach einer Premiere in der Hamburgischen Staatsoper das Publikum im Parkett von den Sitzen erhebt, um stehend weiter Beifall zu klatschen, dann handelt es sich in der Regel um ein neues Ballett von John Neumeier - oder um eine Gastspielproduktion. Neue Operninszenierungen des Hauses kommen selten in den Genuss von Standing Ovations. Am Donnerstag war es die alljährliche Sommerbespielung des hanseatischen Unterhaltungsimperiums Funke Media, die sich dort im Jubel des Premierenpublikums sonnen durfte: die "West Side Story", der "Original Broadway Classic", wie es im Programmheft und auf den Plakaten heißt. In Ehrfurcht vor eben diesem von Jerome Robbins choreografierten Klassiker der Broadway-Moderne aus dem Jahr 1957 hat dessen geistiger Erbe Joey McKneely das Stück vor zwölf Jahren einmal minimal aufgebürstet. Seitdem tourt es in wechselnden Besetzungen um die Welt.

Romeo und Julia in den Häuserschluchten und unter den Brücken Manhattans, dessen West End von zwei rivalisierenden Banden, den Jets und den Sharks, dominiert und umkämpft wird: Das ist der schlichte Handlungsrahmen, den vor allem Leonard Bernsteins Musik mit Leben füllt. Wer Songs wie "America", "Somewhere", "Cool" oder "I Feel Pretty" bislang nur in Interpretationen von Opernsängern, Jazzmusikern oder Entertainern kannte, erlebt sie hier in ihrem ursprünglichen Kontext. Auch abseits der Songs erweist sich Bernsteins Partitur als tolle Bühnenmusik, selbst wenn die überwiegend litauischen Musiker im Orchestergraben den Jazz, mit dessen Rhythmen und Energie Bernstein hier so schön jongliert, nicht gerade im Blut haben.

+++ "West Side Story" - Maria, Maria, Mariiaaa +++

Aus der international zusammengecasteten Besetzung ragt die spanische Sopranistin Elena Sancho Pereg als Maria heraus; ihr nimmt man mühelos die Unschuld des frisch aus Puerto Rico nach New York gekommenen Mädchens ab, das sich trotz seines Heißhungers auf Leben und die große Liebe anfangs noch dem rigiden elterlichen Reglement und dem ihres Bruders, des Sharks-Anführers Bernardo (Pepe Munoz), beugt. Getroffen vom Blitz der Liebe und in derselben Nacht von riesigem Schmerz, wird sie ohne jeden Übergang vom träumenden Mädchen zur Frau, deren Traum erlischt. Die junge Sängerin spielt das auch in den tonlosen Szenen so ernsthaft, dass einem der Atem stockt. Ihre gut ausgebildete Opernstimme hätte mühelos auch ohne Mikroport bis in den letzten Balkonplatz getragen, wogegen der Gesang ihrer jäh aufflammenden Liebe Tony (Liam Tobin) der Verstärkung ebenso dringend bedurfte wie sie dessen Schwächen erst recht hörbar machte.

Die Codes und Imponiergesten der juvenilen Bandenanführer und ihrer Boys, vom Fingerschnippen übers Hochreißen der Arme bis zu kühnen Sprüngen, hat Robbins in eine Choreografie überführt, die als Kunst zeitlos wirkt, selbst wenn manche Bewegungen im Vergleich zur von Rap und HipHop geprägten Zeichensprache heutiger Straßengangs inzwischen fast betulich anmuten. Die engagierte Tanztruppe bringt das aber kraftvoll und überzeugend auf den Bühnenboden.

In der deutlich stärkeren zweiten Hälfte gibt es zum (bedauerlicherweise aus dem Off gesungenen) "Somewhere" eine in der großen Gruppe getanzte Traumsequenz in weißen Kostümen, die wie vom Geist John Neumeiers inspiriert scheint. Weitere Glanzpunkte sind das schmissig gesungene und vital getanzte "America" und die sehr komische Gruppennummer "Gee, Officer Krupke" - präzis getimt, spannend getanzt. Und Stephen Sondheims pointierter Text dazu klingt fast, als sei er gestern geschrieben.

Die Tanzfläche, dunkel verspiegelt und in Quadrate unterteilt, korrespondiert mit der zackigen Eleganz der Bewegungen der Tänzer und auch mit dem Gitternetz der Straßen von Manhattan. Links und rechts begrenzen schwenkbare Fassaden typischer New Yorker Mietshäuser mit ihren Fire Escapes die Bühne. Auf den Hintergrund projizierte New Yorker Schwarzweiß-Ansichten zeigen Automodelle, die noch ein paar Jahre mehr auf dem Buckel haben dürften als die Original-"West Side Story".

So viel beharrliche Liebe zum Showbusiness als Museumsdorf ist schon wunderlich in einer Zeit, in der die verhandelten Themen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Jugendarbeitslosigkeit alle auf der Straße liegen. Theaterautoren und Opernkomponisten sollten bei Broadway-Produzenten Nachhilfe in der Kunst der Vertragsverhandlung nehmen. Sie sind wahre Weltmeister darin, rigoros durchzusetzen, dass von ihnen zur Welt gebrachte Werke über Jahrzehnte nur so aufgeführt werden dürfen wie bei der ersten Produktion. Nicht auszudenken, was für einen theatralischen Feuerschein eine "West Side Story" entfalten würde, bei deren Inszenierung vom Zündstoff Gegenwart Gebrauch gemacht würde.