“Es wäre vielleicht gut, kichernd zu altern, so wie man kichernd groß wird“, hat Ilse Aichinger einmal gesagt. Heute wird die Wiener Schriftstellerin 90 Jahre alt.

Wien. Der Literaturbetrieb hatte sie fast vergessen, aber sie war da, 1988 aus Deutschland nach Wien zurückkehrt. Man konnte sie seither oft über den Schwarzenbergplatz gehen sehen, über den Kohlmarkt oder ins Café Jelinek. Den zerbrechlichen Körper immer etwas nach vorne gebeugt, als würde sie sich gegen den Wind stemmen, so hat Ilse Aichinger über Jahre ihre Wege und Umwege durch Wien genommen.

Jetzt, wo sie im Rollstuhl sitzt, ist die alte Dame immer noch unterwegs. Durch jene Stadt, die durch und durch Erinnerung ist. 1942 hat sie auf der Schwedenbrücke die Rufe ihrer Großmutter und der Tanten gehört. Auf einem Viehwagen wurden sie zum Nordwestbahnhof gebracht und von dort ins Konzentrationslager Minsk. Die, die in der keineswegs sicheren Heimat überlebt, wird darüber schreiben. 1948 erscheint Ilse Aichingers "Die größere Hoffnung", ein Roman, der bis heute nicht nur aus der Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit herausragt, sondern aus der deutschsprachigen Literatur überhaupt.

Als unter Schriftstellern ziemlich ausgemacht war, dass allein der Realismus dem Schrecken beikommen kann, beginnt Ilse Aichinger auf ihre Weise "zu schreiben, wie es wirklich war". In assoziativen Bildern, expressiv und doch lakonisch. Bei ihr wird vom Tod her erzählt, wie in der berühmten "Spiegelgeschichte", für die Ilse Aichinger 1952 den Preis der Gruppe 47 bekommen hat. Im Männerbund ist sie, wie ihre Freundin Ingeborg Bachmann, als aparte Frau willkommen. Von Aichingers "imperialer Liebenswürdigkeit" wird Martin Walser nach einer ersten Begegnung schreiben.

1921 wurde Ilse Aichinger mit ihrer Zwillingsschwester Helga geboren, die dann 1939 in einem der letzten Kindertransporte nach England entkommt. Die Mutter ist Jüdin und Ärztin, der Vater ein Lehrer und Büchernarr. Nach der Scheidung der Eltern wächst Ilse Aichinger bei der Großmutter auf. Mitten im antisemitischen Wien der 20er-Jahre wechseln die Schauplätze der Kindheit, von denen Ilse Aichinger später immer wieder erzählt. Ihre Biografie ist voller absurd-böser Menetekel. Der Urgroßvater hat an der Bahnstation von Auschwitz mitgebaut. Einmal, noch vor dem Krieg, stand plötzlich ein freundlicher Arzt in der Wohnung, der sich als Zwillingsforscher vorstellte. Sein Name wurde erst später berühmt: Dr. Josef Mengele. Mit ihrer Mutter überlebt Aichinger die Kriegsjahre in einer Wohnung direkt neben dem Wiener Gestapo-Hauptquartier.

Vom Verschwinden hat Ilse Aichinger immer wieder erzählt, von einer Sehnsucht nach Flüchtigkeit, die sich auf der Leinwand des Kinos erfüllt und von der sie sich wünscht, dass sie ihr eigenes Leben nicht verschont. Für ihren später tragisch gestorbenen Sohn Clemens ist die Schriftstellerin einmal durch die Catskills gezogen, um ein Autogramm Bob Dylans zu ergattern. Der Zufall half ihr, dort sein unscheinbares Haus zu finden. Als sie daheim ankam, war die Widmung verblasst, allein der lapidare Schriftzug "Dylan" war übrig geblieben. So müsste es sein. Fast keine Spuren hinterlassen.

Die Schriftstellerin ist im Laufe der Jahrzehnte immer anarchischer geworden. Nach einer langen Schreibpause erschienen ab 2001 Glossen in österreichischen Tageszeitungen, die in Kaffeehäusern auf Zetteln, Speisekarten oder Einkaufstüten entstanden sind. "Film und Verhängnis", "Unglaubwürdige Reisen" und "Subtexte" heißen dann die autobiografischen, aphoristischen und lakonischen Bücher, in denen es um Kindheitserinnerungen und Tagesaktualitäten geht, um die Kunst und den Film. "Es wäre vielleicht gut, kichernd zu altern, so wie man kichernd groß wird", hat Ilse Aichinger einmal notiert. In mindestens einem Zimmer des Wiener Sanatoriums Liebhartstal, wo die Grande Dame fröhlicher Grantigkeit heute lebt, wird kichernd gealtert.