Gewaltiges Bühnenstück: Thalia, Symphoniker, Ensemble Resonanz - alle nehmen sich Goethes Weltenwanderer vor. Was ist dran am Mythos?

Hamburg. "Machen Sie mit meinem Faust, was Sie wollen", schrieb der 80-jährige Johann Wolfgang von Goethe 1829 dem Theaterdirektor Klingemann nach Braunschweig, der den ersten Teil der Tragödie uraufführen wollte. Fast 60 Jahre hatte sich Goethe mit dem Stoff beschäftigt, seine "Faust"-Dichtung umfasste knapp 500 Druckseiten oder 12 111 Verse. Goethe glaubte nicht, dass man sie aufführen könne.

Dass der "Faust" nicht als unaufführbare Dichtung gilt, sondern als das gewaltigste deutsche Bühnenstück, ist für das 20. Jahrhundert das Verdienst von Gustaf Gründgens, vor allem seiner Inszenierung des ersten Teils, 1957 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. 1958 folgte der zweite Teil. Generationen von Schülern haben diese Inszenierung mit Gründgens als Mephisto und Will Quadflieg als Faust im Film gesehen. Das Besondere daran war, dass Gründgens das gesamte Drama aus dem dem Stück vorangestellten "Vorspiel auf dem Theater" entwickelte und so dem Geschehen einen Spielcharakter verlieh, in dem sich auch Goethes Visionen frei entfalten konnten.

"Faust" und Hamburg stehen in einer guten Tradition. 1854 wurde hier "Faust II" uraufgeführt. Doch so viel "Faust" wie in diesem Herbst gab's nie. Die Hamburgische Staatsoper begann mit Gounods "Faust" die Saison, die Symphoniker führen Schumanns "Szenen zu Goethes Faust" auf und am Thalia-Theater startet der mehr als achtstündige "Faust"-Marathon.

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Kein anderer Mythos wird so sehr mit den Deutschen verbunden wie der des Doktor Faust. Lange war die Auffassung verbreitet, Fausts grüblerischer, teils introspektiver furchtlos auf letzte Dinge gerichteter Erkenntnisdrang sei spezifisch deutsch. Thomas Mann schrieb 1943 seinen "Doktor Faustus" auch als Gleichnis auf den Teufelspakt, den das deutsche Volk mit den Nazis eingegangen war.

Wenn wir an Faust denken, dann an die von Goethe geschaffene Figur. Obwohl sie sich schlecht zu einer positiven Identifikation eignet. Der verzweifelte Intellektuelle kennt weder Skrupel noch Zweifel, um die Welt und das, was sie im Innersten zusammenhält, zu erobern. Er verschreibt seine Seele dem Teufel und zerstört eine junge Frau, ihren Bruder, ihre Mutter und das vom ihm gezeugte Kind. Goethe gab der etwas plumpen Handlung das geistige Gerüst, sodass sie jetzt als seelisches Ringen einer tiefgründigen Innerlichkeit und Sturmlauf eines getriebenen Einzelgängers erscheint.

Die Deutschen gefielen sich im Spiegel dieses großen Täters. Fausts strebendes Irren und seine schuldhaften Verfehlungen galten als Ausweis tragischer Größe, als Begleiterscheinungen eines letztlich humanen Fortschritts. Solche Vorstellungen sind auch in den schillernden Begriff des "Faustischen" eingegangen, der sich von Goethes Dichtung abgelöst und verselbstständigt hat. Offenbar entspricht es einer allgemeinen klischierten Vorstellung, dass "Faust" nicht allein als die größte dichterische Leistung in deutscher Sprache gilt, sondern auch als größte dichterische Offenbarung des deutschen Geistes.

Darüber, wovon "Faust" handelt, gibt es kilometerlange Analysen. Goethe hat all seine Gedanken in sein Drama gesteckt - und wenige drauf verwendet, es zu deuten. An Eckermann schrieb er 1827: "Da kommen sie und fragen, welche Idee ich in meinem ,Faust' zu verkörpern gesucht. Als ob ich das selber wüsste und aussprechen könnte! Vom Himmel durch die Welt zur Hölle - das wäre zur Not etwas; aber das ist keine Idee, sondern Gang der Handlung. Und ferner, dass der Teufel die Wette verliert und dass ein aus schweren Verirrungen immerfort zum Besseren aufstrebender Mensch zu erlösen sei, das ist zwar ein wirksamer, manches erklärender, guter Gedanke, aber keine Idee, die dem Ganzen zugrunde liegt. Es hätte auch in der Tat ein schönes Ding werden müssen, wenn ich ein so reiches, buntes und höchst mannigfaltiges Leben, wie ich es im 'Faust' zur Anschauung gebracht, auf die magere Schnur einer einzigen Idee hätte reihen wollen."

"Faust" ist ein Kosmos. Es geht um Wissen und Wollen, Macht und Eros, um Aufschneiderei, Utopie und Größenwahn, um Reisen in die Zukunft und die Vergangenheit. Faust ist der mit allen Mitteln nach Antworten suchende, nach Höherem strebende Mensch. Getrieben von Erkenntnisdrang, Freiheitsstreben, Allmachtsfantasien, will er Grenzen sprengen, die Natur bezwingen, das Unmögliche erreichen.

Zerrissenheit ist die deutlichste Eigenschaft Fausts. Ruhelos, freudlos, glücklos ist er, rastlos aktiv, ein Leistungsfanatiker. Das Prinzip des tätigen Lebens ist ihm das Höchste. Er will gestalten, umgestalten. Dafür, dass er eine Steigerung seines Lebensgefühls erreicht, geht er notfalls eine Wette mit dem Teufel ein, und zwar darauf, dass er nie zufrieden sein wird. Getrieben vom unstillbaren Verlangen nach Erkenntnis, Macht und Ich-Erweiterung, bricht Faust in immer weitere räumliche und geistige Fernen aus. Faust, das ist der Tatmensch und der Träumer, der Hitzkopf und der Gelehrte, der den Bezug zur Welt verloren hat. Er interessiert sich nicht für Menschen, wichtig ist ihm seine Idee. Faust siegt unentwegt und erreicht nichts. Das Faustische, das ist die Suche nach Erkenntnis und die folgende Unzufriedenheit.

Goethe wunderte sich über die Sinnsuche der Deutschen. Er schrieb an Eckermann: "Die Deutschen sind übrigens wunderliche Leute! Sie machen sich durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall suchen und überall hineinlegen, das Leben schwer. Ei, so habt doch endlich einmal die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben, euch ergötzen zu lassen, euch rühren zu lassen, euch erheben zu lassen, ja, auch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermutigen zu lassen."

Das Thema "Faust", die Geschichte des Doktor Johannes Faustus und seines Pakts mit Mephistopheles, gehört seit dem 16. Jahrhundert zu den am weitesten verbreiteten Stoffen in der europäischen Literatur. Es gibt Ballette, Lieder, Opern, Dramen, Erzählungen, Puppenspiel und Parodien des Stoffes. Der historische Doktor Faust lebte etwa von 1480 bis 1540, war Wunderheiler, Magier, Wahrsager. Er behauptete, künstliches Gold machen zu können, und entwickelte sich zur Sagenfigur. Literarisch verdichtet gewann sie Konturen in der "Historia von D. Johann Fausten" (1587). In ihr floss die Figur des Teufelsbündners der christlich-mittelalterlichen Tradition zusammen mit dem erlebnishungrigen Abenteurer und dem wissensdurstigen Forscher der Neuzeit. 1589 schrieb Christopher Marlowe ein Faust-Drama, in dem er für die Faust-Figur Sympathien zeigt. Nach 1600 wurde Faust zu einer komischen Figur, vergleichbar dem Kasper im Puppentheater. Nach 1750 wird die Faust-Figur zum aufgeklärten Wissenschaftler und Künstler. In den literarischen, dramatischen und musikalischen Gestaltungen dominieren zwei Themen aus dem sagenhaften Leben Fausts: Sein Pakt mit dem Teufel sowie Fausts Streben nach letzten Erkenntnissen.

Goethe veröffentlichte 1790 "Faust - Ein Fragment", es folgte der "Urfaust" mit dem Gretchen-Konflikt im Mittelpunkt. "Faust I" (1797-1805) erzählt die Geschichte vom Teufelspakt, die wir heute hauptsächlich mit dem Stoff verbinden. In "Faust II", den Goethe kurz vor seinem Tod, 1831, beendete, durchmisst Faust Zeit und Raum in einem wahnwitzigen Illusionsspektakel. In Goethes Faust sind, wie in einen Spiegel, alle Ideen, Sehnsüchte, Ideologien und Hirngespinste hineinprojiziert worden, die je das Herz der Deutschen bewegten.

Goethes Faust ist ein moderner Intellektueller, dem es um Erkenntnis und Erfahrungsvielfalt geht, jemand, der aus dem Gefängnis seiner Forscherexistenz ausbricht, um ins banale Leben einzubrechen. "Faust I" ist ein Drama über einen Gelehrten, der das Unmögliche will, der die Welt und ihre moralischen Grenzen für sich und seinen Trieb für zu eng hält, der mit diesem Leben abgeschlossen hat und mit dem Teufel einen Pakt schließt, um allmächtig zu werden. So oder auch anders könnte man die Geschichte zusammenfassen. Goethe zeigt einen Menschen, der sein Unbehagen an der Schöpfung äußert. Der Gott gleich werden will. Und damit eröffnet er philosophische, religiöse, soziologische und zeitgeschichtliche Debatten. Faust wird in wachsender Verzweiflung von zwei Polen auseinandergerissen: vom Streben und vom Genuss. Seine Unzufriedenheit macht ihn zum idealen Medium für den Teufelsbund.

"Faustisch" sei die deutsche Seele, so will es das Klischee, also stets nach neuem Erleben und Wissen, nach immer tieferen Erkenntnissen strebend und nie befriedigt. Manch ein Franzose allerdings macht sich über den grübelnden Faust lustig und behauptet, das typisch Deutsche am Stück sei, dass Faust die Hilfe des Teufels benötige, um ein unbedarftes Landei zu verführen.

In seinem steilen Höhenflug und jämmerlichen Sturz spiegelt Faust die Tragödie des modernen Menschen wider, der die Sicherheit des Glaubens verloren hat. Er ist der Gegentyp des demütigen Menschen, der Normabweichler und Grenzüberschreiter, der über jegliches altes Wissen hinausstrebt und sich die Zukunft neu entwirft. Ist das nun besonders deutsch?