Das großartige Alvin Ailey American Dance Theater gastiert ab morgen in Hamburg. Das Abendblatt hat die Kompanie vorab in New York getroffen

Staatsoper. Die meisten wissen ganz genau, was hier gespielt wird, schließlich sind die meisten Stammgast im Performing Arts Center in New Jersey vor den Toren New Yorks. Und trotzdem starren alle gebannt auf die Bühne: Dort im Halbdunkel liegt ein schwarzer Tänzer auf dem Rücken, barfuß, mit weißer Hose und engem Shirt. Er tanzt ein Solo von Alvin Aileys Choreografie "Revelations", einem der bedeutendsten Werke des Modern Dance. Vom Band kommt ein trauriger Südstaaten-Blues. Der Tänzer versucht immer wieder, sich aufzurichten, dreht Pirouetten, das rechte Bein dabei fast senkrecht nach oben gereckt, doch wie von einem Magneten gezogen fällt er immer wieder zurück auf den Boden. Versucht es erneut. Nun liegt er flach auf dem Bauch, lang gestreckt, jeden Muskel angespannt.

Das können in dieser Perfektion nur die besten Tänzer der Welt - und zu denen gehören die des Alvin Ailey American Dance Theater (AAADT). Bei allen ist der Lebenslauf gespickt mit den Namen renommierter Kunsthochschulen, Stipendien und Engagements. Das AAADT muss seine Company mit handverlesenen Tänzerinnen und Tänzern bestücken, schließlich gehört es zu den besten Tanztheatern der Welt und zu den populärsten ohnehin. Das Flaggschiff des Modern Dance darf sich mit der National Medal of Arts schmücken und ist offizieller Kulturbotschafter der USA für die Welt. Rund 23 Millionen Menschen in 71 Ländern haben die Tänzer seit 1958 gesehen.

Jetzt kommt das AAADT auf seiner Europa-Tournee nach sechs Jahren erstmals wieder nach Deutschland; vom 23. bis zum 28. August ist es in der Hamburger Staatsoper zu sehen. Für den neuen Chef Robert Battle, der im Juli die langjährige Leiterin Judith Jamison abgelöst hat, ist es die erste Tournee. Er wird zeigen müssen, was er kann. Die meisten Stücke auf dieser Tour stammen aus den vergangenen zehn Jahren, haben Soundtracks von Moby oder Stevie Wonder. Modern Dance - das ist eine Mischung aus Ballett, Jazz- und Breakdance.

Sozusagen pur Alvin Ailey ist dagegen "Revelations". Es ist seit seiner Uraufführung 1960 in New York das Paradestück des AAADT. Wo immer die Truppe auftritt, ist es im Programm, seit 51 Jahren. Alvin Ailey hatte in diesen "Offenbarungen" seine religiösen Erfahrungen verarbeitet, die Versklavung und Ausgrenzung der Schwarzen im Süden Amerikas und die Suche nach Erlösung. Mal tanzt zu Spirituals nur ein Tänzer wie bei "I Wanna Be Ready" oder die ganze Kompanie, wie am Schluss. Es gibt ruhige Teile, bei denen nur ein Tänzerpaar auftritt, später fliegen drei Männer durch die Luft und rollen über den Boden. Insgesamt 30 Minuten lang - auf Tour jeden Abend. "Man wird deshalb schon müde mit der Zeit, nicht nur körperlich, das sowieso, sondern auch im Kopf", sagt Guillermo Asca, der dem 30-köpfigen Ensemble am längsten angehört. Es sei deshalb wichtig, immer neue Stücke ins Programm aufzunehmen.

Dazu bringt Robert Battle gleich zwei eigene Choreografien mit nach Hamburg. "The Hunt", ein brachiales Tanzritual für sechs Männer zu Trommelmusik von Les Tambours du Bronx, und "Takademe", bei dem zu jazzigen Scat-Vocals getanzt wird.

Auch die Pirouetten von "Revelations" mögen mit den Jahren schneller geworden sein, die Sprünge höher - doch die Choreografie, die Kleidung und die Beleuchtung sind noch nach mehr als 50 Jahren originalgetreu. Und sollen es auch bleiben, denn es wird auch unter dem neuen Chef niemals eine neue Interpretation dieses Stückes geben. "Wenn etwas nicht kaputt ist, repariere es auch nicht. Das sagte schon mein Großvater", erklärt Robert Battle. Vielleicht ist das so, weil "Revelations" die Choreografie ist, die das Tanztheater vor mehr als 50 Jahren groß herausbrachte. Der junge schwarze Tänzer Alvin Ailey fand damals keine etablierte Kompanie, in der es Platz für Schwarze gab. Also gründete er selbst eine. Die jungen afroamerikanischen Tänzer probten abends nach der Arbeit, traten in New Yorker Hinterzimmern auf und schafften mit "Revelations" den Durchbruch. 1989 starb Ailey 58-jährig an Aids, und seine langjährige Tanzpartnerin Judith Jamison übernahm die Leitung. Sie führte Aileys Werk weiter und machte das Tanztheater zu einem Millionen-Imperium.

Die sechsstöckige, 56 Millionen Dollar teure Zentrale dieses Imperiums liegt mitten in New York, nur einen Steinwurf vom Central Park entfernt. Judith Jamison hat mehr als 70 Millionen Dollar an Spendengeldern eingesammelt. 12,5 Millionen investierte die Stadt New York, 15 Millionen gab Citigroup-Gründer Sandy Weill dazu, nach dessen Frau Joan das 2005 eröffnete Haus benannt wurde. An den Wänden dieser Zentrale hängen überall Poster mit dem Konterfei von Alvin Ailey. Auch im Konferenzsaal dominiert ein großes Porträt den Raum. Aileys Traum: tanzen für jedermann, unabhängig von Hautfarbe und Religion, frei von Konventionen. Robert Battle, der neue Chef, ist Alvin Ailey nie begegnet. Aber er weiß, worauf es ankommt: "Der Geist von Alvin lebt in seinen Stücken weiter", sagt er, "er ist immer da, beim Proben und auf der Bühne."

Auf der Bühne des New Jersey Performing Arts Center geht das Licht aus, die Scheinwerfer gehen an. "Annointed", eine Choreografie von 2010, ist eine Hommage für Alvin Ailey. Ein Mann kommt auf die Bühne. Tänzerinnen in lilafarbenen Kleidern eilen an ihm vorüber, dann formieren sich die einzelnen Tänzer zu einem synchronen Kollektiv. Und die Perfektion des Tanzes, die schwarzen Körper, die zur Musik von Moby barfuß über das Holzparkett huschen, sich auf dem Boden wälzen und durch die Luft wirbeln, lassen 56-Millionen-Dollar-Glasbauten, Sponsoring-Verträge und alles andere vergessen. Alles, außer Alvin Ailey.

Alvin Ailey American Dance Theater Di 23.8. bis So 28.8., jeweils 20.00, 27./28.8. auch 14.30, Hamburgische Staatsoper (U Stephansplatz), Dammtorstraße 28, Karten zu 23,45 bis 91,03 unter Tickettelefon 30 30 98 98 und in allen Abendblatt-Ticketshops; www.bb-promotion.com