Walter Benjamins epochales “Passagen-Werk“ erscheint im Corso-Verlag. Entstanden ist es überwiegend in Paris, wo er seit 1933 im Exil lebte.

Hamburg. Der Hamburger Verlag Corso hat es erstaunlich schnell geschafft, sein Reiseliteratur-Programm erfolgreich auf dem Markt zu platzieren, um mal unschön gestelztes Verkäufer-Deutsch zu bemühen. Die literarisch anspruchsvollen und auch optisch ansprechenden Städtebücher, die magazinartigen Einladungen, die Fremde zu erkunden, London, Rom oder Paris, lassen wieder einmal nur den Schluss zu: Reisen macht klug und ist sinnlich.

Und manchmal ist Reisen auch Kopfsache, es vermittelt einem neue Eindrücke, die vom körperlichen Empfinden und der sinnenfrohen Begegnung in abstrakte Denkgebäude übersetzt werden. Zumindest wenn man Walter Benjamin heißt. Der rastlose Meisterdenker, dessen Bücher im Regal, besser noch in der U-Bahn oder auf der Decke im Stadtpark tolle Renommierobjekte sind, verreiste oft in seinem Leben. Ein Leben, das 1940 auf der Flucht vor den Nazis in den Pyrenäen endete, Benjamin wählte den Freitod.

1892 in Berlin geboren, war der Sohn einer jüdisch-deutschen Familie zeit seines Lebens ein anerkannter Publizist und Philosoph. Er hinterließ neben epochemachenden philosophischen Schriften ("Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit") und Aufsätzen ein riesiges Fragment aus Notizen: "Das Passagen-Werk". Entstanden ist es überwiegend in Paris, wo Benjamin seit 1933 im Exil lebte. Wovon es handelt, ist (so ist alle Philosophie) ganz einfach und gleichzeitig ziemlich schwierig zu sagen. Vielleicht grundsätzlich von der Zeit und ihrem Vergehen. Genauer von der Großstadt und ihren Bedingungen, von ihrer Architektur und der Architektur des Konsums. Von dem Menschen, der sich in der Stadt bewegt: dem Flaneur.

Weil es Benjamin im geschichtsphilosophischen "Passagen-Werk" ganz grundsätzlich um noch viel mehr, nämlich schlicht um alles, um die Weltformel des 19. Jahrhunderts, geht, sind seine Beschreibungen kompliziert. Wer versucht hat, das "Passagen-Werk" zu lesen, der weiß von der Mühsal, das vom materialistischen und religiösen Denker Benjamin vorgenommene gedankliche Abenteuer mitzuerleben.

Der nun bei Corso erscheinende opulente Band "Passagen, Kristalle" ist eine Labsal. Er stellt, in Person des Herausgebers Joachim Otte, die vielleicht interessantesten Betrachtungen, Aphorismen, Essays und Miniaturen Benjamins zusammen. Nicht, dass das "Passagen-Werk", das 1982 posthum erschien und ursprünglich "Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts" heißen sollte, je etwas anderes gewesen wäre als ein Konvolut von Notizen. In der bibliophilen Corso-Ausgabe wird Benjamins wuchernde Gedankensammlung auf eine sinnliche und großzügig gesetzte Collage verknappt.

Die Betrachtungen sind scharfsichtig wie diese: "Moden sind ein Medikament, das die verhängnisvollen Wirkungen des Vergessens, im kollektiven Maßstab, kompensieren soll. Je kurzlebiger eine Zeit, desto mehr ist sie an der Mode ausgerichtet."

Dass sich ein Verlag, der sich auf Reiseliteratur konzentriert, dieser klugen, aber auch etwas sperrigen Lektüre annimmt, ist einleuchtend: Im Kern ist das "Passagen-Werk" ja ein Buch über den Stadtwandler, den Flaneur. Im 19. Jahrhundert, als "Einkaufengehen" zur Praxis des Großstadtbewohners wurde, als er sich nach Gründung von Warenhäusern als Konsument in der Masse bewegte, wurde auch die "Flanerie" geboren. Also das, was wir alle tun, wenn wir uns in die "City" begeben oder fremde Städte besuchen. Wir latschen und glotzen. Wenn wir dabei elegant tun und Stil zeigen, kann man auch "lustwandeln und feierlich ins Auge fassen" dazu sagen. Wie auch immer - bevor die Warenhäuser zu den Konsumtempeln wurden, waren die Passagen (französisch für "Durchgang") die Flaniermeilen für Einkäufer.

Seit 1820 wurden die architektonisch völlig neuen Passagen in Paris angelegt. Am Anfang aus praktischen Gründen, sie dienten als Verbindungen zwischen Straßenzügen. Die Passagen waren überdacht, ihr Bau ging auch auf den Wunsch zurück, den Verkehr der Fußgänger zu erleichtern. Die Wege waren auch damals schon verstopft; wie das eben so ist in Großstädten. Dort leben viele Menschen, und alle gehen mal raus. In der Passage "entdeckten die Pariser das Vergnügen des Flanierens und das Schauspiel der Schaufensterauslagen, ihrer Sehenswürdigkeiten, die diese Galerien ausbreiteten", schreibt der Germanist Jean Michel Palmier in seiner brillanten Studie zu Leben und Werk, die schlicht "Walter Benjamin" (Suhrkamp-Verlag) betitelt ist.

Das, was wir heute auch in Hamburg noch vereinzelt finden, lehrte den vorher in der Masse untergehenden Bürger das Flanieren. Dank der Passagen wurde das Flanieren zu einer Form der mondänen Zerstreuung. In ihrer Hochzeit gab es mehr als 100 Passagen, heute sind es noch kaum 20 Ladenpassagen in Paris, der Stadt also, von der Amédée de Kermel einst schrieb: "Der Flaneur kann überall geboren sein, leben kann er nur in Paris." Wird schon so sein, und formvollendet flanieren kann man bestimmt nicht in der Europa-Passage, sondern nur in den historischen Passagen. Von denen gibt es noch ein paar - nicht nur in Paris: die Burlington Arcade in London, die Galleria Vittorio Emanuele in Mailand oder die Galerie Saint-Hubert in Brüssel.

Was Benjamin in den kunstvoll gestalteten Passagen fand (Arkaden, Glas, Bögen, Kapitelle, Säulen, Marmor, Kranzgesimse, Schnitzwerk und Kassettendecke), war mehr als nur interessante Architektur. Es ging eine Aura des Rätselhaften von ihnen aus: Der Mix aus Läden und Cafés bot viel Raum für Merkwürdiges und Außergewöhnliches. Die Surrealisten (diese Form der Avantgarde hatte ihre große Zeit, als Benjamin in Paris lebte) waren von der bunt zusammengewürfelten (Waren-)Welt fasziniert. Der Pathetiker und Romantiker, der Baudelaire-Fan und Marxist Benjamin suchte in den Passagen das Geheimnis hinter den Dingen.

Oder die messerscharfe Beobachtung, die heute immer noch Gültigkeit hat: "Der Flaneur ist der Beobachter des Marktes. Sein Wissen steht der Geheimwissenschaft von der Konjunktur nahe. Er ist der in das Reich des Konsumenten ausgeschickte Kundschafter des Kapitalisten."

Benjamin war ein Poet, der zwischen Schriftstellerei und Wissenschaft changierte. Das zeigt sich sehr schön in den gelungen zusammengestellten Häppchen des Corso-Bandes.

Walter Benjamin: Passagen, Kristalle. Corso-Verlag. 159 S., 24,90 Euro