Ballettchef John Neumeier über seine Benefiz-Gala für die Opfer der Erdbebenkatastrophe in Japan und seinen Nagasaki-Komplex.

Hamburg. Das Büro von John Neumeier ist einer dieser Orte, an denen man gern vergessen werden würde. Einfach so, über Nacht. Dann könnte man das alles mal in Ruhe anschauen, all die Skulpturen, Kostüme, Skizzen von Bühnenbildern. Ob es hier auch mal politisch zugeht? Auf seinem Schreibtisch steht eine Tasse mit Buntstiften, die alle fein angespitzt sind - Hamburg Ballett John Neumeier steht darauf. Er selbst trinkt Tee aus einer Tasse mit fliegenden Möwen. Oder Tauben. So richtig ist das auf die Distanz nicht zu erkennen.

Hamburger Abendblatt: Herr Neumeier, Sie sind Künstler, Tänzer und Choreograf. Warum bewegen Sie die Themen Atomkraft und Energiepolitik?

John Neumeier: Es bewegt mich zuallererst als Amerikaner. Weil ich immer noch einen Komplex wegen Hiroshima und Nagasaki habe. Zum ersten Mal in der Geschichte ist dort Atomkraft als Waffe benutzt worden, mit den schrecklichsten Folgen. Natürlich kann man sagen: Dadurch endete der Zweite Weltkrieg. Doch ich glaube, in diesem Moment hat eine Entwicklung begonnen, an deren Ende sich Atomenergie als etwas Harmloses, Positives für die Menschheit darstellte. Ich bin kein Intellektueller. Aber ich finde, dass es ein Problem ist, wenn wir auf eine Form von Energie vertrauen, die nicht zu sichern ist und Resultate produziert, die in ihrer Multipliziertheit nicht abzuschätzen sind.

Es gibt Menschen, die wissen wenig über Ballett und Tanz. Sie urteilen trotzdem darüber und fragen zum Beispiel, warum man das mit Steuermitteln fördern müsse. Haben Sie selbst genug Wissen über Atomkraft, um über sie zu urteilen?

Neumeier: Man muss nicht ein Atomphysiker sein, um zu wissen, dass die Menschheit das Problem der Endmüllfrage in der Kernenergie nicht gelöst hat. Gar nicht lösen kann. Ich sehe das unter sehr einfachen Gesichtspunkten.

Das ist ja oft die Sicht der Kunst auf die Welt und die Dinge ...

Neumeier: Das hat mit Kunst nicht viel zu tun. Das hat mit Menschlichkeit, mit meinem Menschsein zu tun.

Fahren Sie denn als Mensch nach Japan oder als Künstler?

Neumeier: Dazu würde ich Ihnen gern eine Geschichte erzählen. Als wir das allererste Mal auf Tournee nach Japan gingen - das war im Jahr 1986 - war klar, dass wir auch in Hiroshima auftreten würden. Es war mein größter Wunsch, dass wir dort die Matthäus-Passion aufführen, für mich war das, als würde ich einen Kranz niederlegen ... auf künstlerische Weise. Unser Veranstalter war eine buddhistische Organisation, sie hielt das für keine gute Idee. Dann, auf einer Vorreise, kamen wir gemeinsam nach Hiroshima. Dort gibt es ein Museum über die Bombe. Wenn man das gesehen hat ...

... Sie waren dort?

Neumeier: Ja. Und ich war so bewegt und so außer mir, dass die Veranstalter noch einmal überlegt haben. Vielleicht haben sie auch einfach gemerkt, dass ich nicht von meiner Meinung abzubringen war. Die Matthäus-Passion haben wir dann in Hiroshima und Tokio aufgeführt. Es war eine menschliche Entscheidung, keine künstlerische.

Wie haben Sie die Tage des großen Unglücks erlebt?

Neumeier: Nun, die Tage des Unglücks sind ja noch nicht zu Ende. Noch immer sind die Folgen für das Land und die Menschen nicht absehbar. Japan kommt nicht zur Ruhe. Es gibt ständig Berichte, in denen die Behörden oder die Betreiber von Fukushima ursprüngliche Äußerungen korrigieren müssen. Als die Erde zum ersten Mal bebte, war ich in Amsterdam für ein Projekt mit dem Dutch National Ballet. Die Bilder im Fernsehen wirkten auf mich völlig irreal. Nach zehn Tagen bin ich zurück nach Hamburg gekommen. Ich habe ja auch japanische Tänzer in meiner Compagnie, sie waren sehr mitgenommen. Das hat mich berührt.

Sie haben zwei verschiedene Ballette für die Gala ausgewählt, warum diese?

Neumeier: Das zweite Stück, "Seven Haiku of the Moon" ist ideal für diesen Abend, es basiert auf einer japanischen Gedichtform. Als Kontrast dazu zeigen wir davor "Dances at a Gathering" von Jerome Robbins. Es ist ein Stück, in dem unsere ersten Solisten besonders präsent sind. Man muss zu all dem wissen, dass die Tage und Abende in der Staatsoper über Jahre im Voraus geplant sind, ich habe Vorstellungspläne bis 2014. Das heißt, so eine Gala spontan in unser Programm einzubringen, ist sehr schwer. Die einzige Möglichkeit war, die Gala auf einen Probenabend zu legen. Alles Geld, das wir dabei einnehmen, auch meine eigene Gage, spenden wir dem Japanischen Roten Kreuz.

Benefiz-Gala des Hamburg Balletts für die Opfer der Erdbebenkatastrophe in Japan. Mo 6.6., 19.30 Uhr, Hamburgische Staatsoper. Karten 4,- bis 79,- T. 35 68 68 oder www.staatsoper-hamburg.de