Bei den Vattenfall-Lesetagen, politisch motivierten Gegenveranstaltungen und “Lesen ohne Atomstrom“ herrscht reger Betrieb.

Hamburg. Die Teppiche und die roten Sessel wirken orientalisch, die Kacheln an den Wänden im Café Sha eher badeanstaltenmäßig. "Badeanstaltenmäßig", ein hässliches Wort; hässlich ist auch das Hämmern hinter der Wand. Tock-tock-tock. Das stört die Veranstaltung gewaltig, wird aber mit einem Schmunzeln quittiert. Maria Hartmann und Cornelia Schramm lesen aus der Autobiografie der Anarchistin Emma Goldman, und während sie dies tun, wird durch die Aktivitäten des handerwerkenden Nachbarn der charmante Beweis angetreten: "Lesetage selber machen" ist nicht superprofessionell, sondern selbst gestrickt.

Das aber nicht in den vergangenen drei Wochen, sondern bereits vor der Katastrophe in Japan. Darauf legen die Veranstalter wert. Die durchaus politisch motivierte Gegenveranstaltung zu den Vattenfall-Lesetagen stellte immerhin 60 Veranstaltungen an 40 Orten auf die Beine. Addiert man die zu den Lesungen der Vattenfall-Lesetage und "Lesen ohne Atomstrom"-Veranstaltungen, dann kann man zurzeit mit Fug und Recht sagen: Hamburg liest. Und zwar flächen- und geschmacksdeckend. Wem der Sinn am Wochenende danach stand, etwas vorgelesen zu bekommen, hatte die Auswahl aus Dutzenden von Veranstaltungen in der ganzen Stadt. Rund um die Uhr wurde dieser Wunsch im Gängeviertel erfüllt, denn dort lief von Freitag- bis Sonntagabend eine 48-stündige Marathon-Lesung. Im 30-Minuten-Takt wechseln sich Lyriker und Prosaisten ab, die Texte durchaus von wechselnder Qualität, aber das liegt bei einem solchen Mammutprogramm in der Natur der Sache.

Dem Ort in der Gängeviertel-Fabrik wohnt ein besonderer Zauber inne. Mit den etwas abgeranzten, aber gemütlichen Sofas, der großen Stehlampe, einem Bäumchen mit zart sprießendem Grün und Fensterbrettern voller Bücher erinnert der Saal an ein großes Wohnzimmer. Es herrscht ein Kommen und Gehen, möglichst leise wird nach einem Platz gesucht, ein freundlicher schwarzer Hund begrüßt und beschnuppert jeden Neuankömmling. Mancher verweilt nur eine Viertelstunde, andere bleiben länger und lassen sich in diesem entspannten Ambiente in den Sog der Sprache ziehen.

Hochspannung auch auf Kampnagel, angesichts einer schwedischen Kriminacht auch zu erwarten. Anders als im Gängeviertel zeigt sich hier der profilierte Literaturbetrieb. Vor einem orangefarbenen Banner mit Vattenfall-Logo präsentiert Moderatorin Regula Venske drei schwedische Krimiautoren.

Sie stellt den Schriftstellern kluge Fragen nach Biografie und Werk und macht das Publikum neugierig auf die Romane "Das fremde Kind", "Strindbergs Stern" und "Mach sie fertig". Die hier noch unbekannten schwedischen Schriftsteller lesen kurze Passagen auf Schwedisch, der Schauspieler Sebastian Dunkelberg verleiht den deutschen Texten mit seinem Sprachduktus die entsprechende Spannung. Lesung ist hier nicht nur schöner Selbstzweck, hier wird Literatur auch an den Mann bzw. die Frau gebracht, Signierstand im Foyer inklusive.

Wo die von Vattenfall gesponserten Lesetage auf das große Publikum zielen, werfen die ehrenamtlich organisierten Macher der Konkurrenzveranstaltung auch einen Blick in die Nische. So locken auch sie locker 50 Zuhörer in ein kleines Ottenser Café, um das wilde Leben einer US-amerikanischen Anarchistin zu beleuchten. Was nicht heißt, dass die Vattenfall-Lesungen plump den Mainstream bedienen: In der rustikalen Vierländer Kate berichteten drei Autoren von ihren Erfahrungen in der Provinz. Von Hamburg aus gesehen ist die ganz weit weg. Auf dem Dorf fährt der Bus einmal die Stunde, wenn er überhaupt noch fährt. Was für einen langsamen Beat das Leben dort hat, der schönen Freizeitbeschäftigung Lesen ist das ja nicht abträglich.