Der Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass hat sich zum ersten Mal in die Diskussion um den Ausstieg aus der Kernenergie eingeschaltet.

Hamburg. Vor dem Hintergrund der katastrophalen Ereignisse im japanischen Atommeiler Fukushima warnt der Schriftsteller Günter Grass vor einer politischen Entwicklung in Deutschland, in der die bisherigen Gesetze nicht mehr ausreichen.

"Meine schlimmste Befürchtung ist, dass wir eine Öko-Diktatur bekommen. Wir müssten dann mit Notstandsverordnungen leben", sagte Grass im Exklusiv-Interview mit dem Hamburger Abendblatt. Das Ende der Ressourcen und des Wachstums sowie die Globalisierung und die Wasserknappheit seien heute ebenso wichtige Themen wie die Atomenergie. "Die Gefahr ist, dass sich in naher Zukunft all das zusammenballt", sagte Grass.

Das gesamte Interview mit Günter Grass im Wortlaut

In Fukushima sei etwas passiert, "was anders ist als alles, was wir bisher erlebt, gewusst oder geahnt haben". Die Atomkatastrophe in Japan könne man heute nicht mehr so handhaben wie Tschernobyl zu Zeiten der Sowjetunion. "Damals konnte man Leute dorthin karren, die den Betonmantel um das Werk legen mussten - sie sind alle verstrahlt worden. Was will man in Japan machen?" Deutschland habe "einen Vorgeschmack auf das bekommen, was auf uns zukommen könnte", sagte Grass.

Scharf griff der Nobelpreisträger die Atompolitik von CDU und FDP an. "Was wir heute vorfinden, ist von Frau Merkel und von der CDU und FDP mit der Atomlobby ausgehandelt worden. Gegen den Protest der Bürger." Er sehe insgesamt eine zu starke Abhängigkeit der Politiker von den Lobbyisten. Um dies zu ändern, müsse "eine Art Bannmeile gegen Lobbyisten um den Bundestag gelegt werden".

Grass sprach sich dafür aus, nach der beschlossenen Aussetzung der Wehrpflicht eine Pflicht zum sozialen Dienst für junge Menschen einzuführen. Da könne nach Abschluss der Schule ein Jahr lang etwas Sinnvolles getan werden, ergänzte der Schriftsteller. "Einige meiner Enkelkinder haben Ersatzdienst geleistet und mussten sich zum ersten Mal in ihrem Leben mit alten Leuten befassen. Das hat sie geformt", sagte Grass. Scharf kritisierte er das Aussetzen der Wehrpflicht. "Jetzt kriegen wir eine Berufsarmee. Und das hat Folgen: Jede Berufsarmee hat die Tendenz, als Staat im Staate zu wirken", mahnte der Nobelpreisträger.

In Japan spitzte sich die Lage in den Atomkraftwerken gestern wieder zu. Die bisher schwersten Nachbeben nach der Katastrophe vom 11. März beschädigten weitere Meiler im Nordosten des Landes. So schwappte in allen drei Reaktoren der Anlage in Onagawa leicht verstrahltes Wasser aus einem Abklingbecken für Brennstäbe. Zudem wurden Lecks an acht Stellen gefunden. Im Katastrophen-Kraftwerk Fukushima dagegen gab es nach Angaben des Betreibers Tepco keine neuen Schäden. Das Nachbeben hatte Japan in der Nacht zu Freitag erschüttert. Noch am Abend waren viele Gebiete in der Erdbebenregion ohne Strom. Die Nachrichtenagentur Kyodo meldete unter Berufung auf die Polizei vier Tote und 141 Verletzte.

Günter Grass liest am Sonntag vor dem Kernkraftwerk Krümmel

Wenn Günter Grass am Sonntag ab 11 Uhr im Rahmen der Lesetage "Lesen ohne Atomstrom" in einem Zelt vor dem Kernkraftwerk Krümmel liest, könnte es eng werden. Die Veranstalter rechnen mit einem Riesenandrang. Sie werden deshalb die Lesung via Audioleitung auf den Vorplatz übertragen.

Der Literaturnobelpreisträger wird aus seinem neuesten Roman "Grimms Wörter" und die Jahresgeschichte "1955" aus seinem Buch "Mein Jahrhundert" lesen. In dieser Geschichte geht es um einen Mann, der aus Angst vor dem Atomkrieg in seinem Garten einen Bunker baut und dabei verschüttet wird. Nach der Lesung wird Grass mit dem ehemaligen Chefredakteur des Deutschlandfunks, Rainer Burchardt, über die gesellschaftliche Kontroverse zur Kernenergie diskutieren. Der Schriftsteller verzichtet auf ein Honorar, bittet aber um Spenden für die "Bäuerliche Notgemeinschaft Wendland", die sich gegen das Atommüll-Endlager in Gorleben wehrt.