Der international hoch angesehene Dirigent Thomas Hengelbrock stellte sich gestern als künftiger Chef des NDR Sinfonieorchesters vor.

Hamburg. Wenn, wie Shakespeare sagt, Musik der Liebe Nahrung ist, dann muss es auch erlaubt sein, über das Arbeitsverhältnis unter Musikern in der Sprache der Liebe zu reden. Entsprechend viel war beim gestrigen ersten Rendezvous zwischen Thomas Hengelbrock, dem künftigen Chefdirigenten des NDR Sinfonieorchesters, und Vertretern der Öffentlichkeit im Carls an der Elbphilharmonie die Rede von wilder Ehe, von Hochzeitsnächten und wo man sie verbringt, von Liebe auf den ersten Blick und - schließlich geht es um eine Anstalt des öffentlichen Rechts - von Heirat.

Die Metaphorik mochte bisweilen schlüpfrig sein. Doch sie beschreibt die Grundenergie, die das Verhältnis zwischen Hengelbrock und dem NDR Sinfonieorchester von Anbeginn prägt. Seit der 1,90 Meter große Mann mit den sehr blauen, von vielen Lachfältchen flankierten Augen und dem Lächeln eines offenkundig auch zum Glücklichsein hochbegabten Menschen vor gut drei Jahren das erste Mal die NDR-Sinfoniker im Konzert dirigierte, stellte sich bei jeder weiteren Begegnung erneut diese Magie ein, die bei diesem etwas behördlich anmutenden Apparat keiner für möglich gehalten hätte. "Gleich im ersten Konzert spielten die Musiker abartig gut. Da war ein Furor, ein Schäumen und ein derart voller, tiefer Sound, das war unglaublich", sagt er.

Die gestern flott als Hochzeitsnacht deklarierte Saisoneröffnung am 9. September 2011 steht unter dem Titel "Anything Goes", den Hengelbrock für sich mit "Alles ist möglich" übersetzt. Ein präzis auf die Hamburger Musikgeschichte zugeschnittenes Programm bringt zunächst Musik von Carl Philipp Emanuel Bach, Telemann und Händel. Die Fortsetzung mit Beethovens "Eroica" und einem Broadway-Spaziergang mit Musik von Gershwin und Cole Porter wirkt als Spiel mit den Möglichkeiten, die Hengelbrock für sich und das NDR-Orchester sieht. Eine Messe von Michael Haydn hat er sich vorgenommen, eine Ouvertüre von Joseph Joachim soll Brahms' Violinkonzert vorausgehen, das Joachim gewidmet ist. Mit der französischen Pianistin Lise de la Salle präsentiert Hengelbrock, als Operndirigent auch aufs französische Repertoire spezialisiert, Musik von Rameau und Saint-Saëns. Er steht auch für das womöglich Entlegene, von ihm aber quellenkundlich akribisch Durchleuchtete, das zu Unrecht Vergessene.

Wer seit der bereits zwei Jahre zurückliegenden Vertragsunterzeichnung Hengelbrocks mit Musikern des Orchesters sprach, registrierte nicht nur bei den jungen, sondern gerade auch bei manchen altgedienten Musikern kurz vor der Pensionierung helle Begeisterung für den Neuen.

Denn Hengelbrock, am 9. Juni 1958 in Wilhelmshaven geboren und dort als Ältester von fünf Geschwistern aufgewachsen, ist ein Vollblutmusiker, der überzeugen, erklären, animieren und Gutes besser machen kann. Seine Autorität entspringt gleichermaßen fachlicher wie sozialer Kompetenz. Vor allem aber erscheint sie als gelebte Lösung des Rätsels, wie man Durchsetzungsfähigkeit und Zuhörenkönnen, Entscheidungssicherheit und Offenbleiben für andere Lesarten eines Problems miteinander vereint. Dass er fast immer ohne Podest dirigiert, erklärt Hengelbrock hauptsächlich mit seinem Gardemaß; er brauche keine Erhöhung, um gesehen zu werden. Er sagt aber auch: "Ich muss in Kontakt sein mit den Musikern." Er spricht von einer "physischen Nähe, einer instinkthaften Verbindung" mit dem NDR-Orchester.

Als Geiger, der in jeder Stadt, in der er studierte, sofort ein eigenes Orchester gründete, kennt er den Organismus gründlich aus der Binnenperspektive. Bei einem Staatsorchester anzuheuern schied für den allzeit umworbenen Musiker, der schon mit Anfang 20 Professor geworden war, deshalb auch in seinen reiferen Jugendjahren noch aus: "Leben war für mich damals nur in der freien Szene vorstellbar", sagt er.

Er sei "mit den selbst verwalteten Orchestern sozialisiert", die in den 80er-Jahren in Mode kamen - als reichlich späte Reaktion auf die politische Entwicklung von 1968 bis zum Aufkommen der Grünen. Auch das ist längst Geschichte: Mit dem von ihm vor 20 Jahren gegründeten Balthasar-Neumann-Chor ist Hengelbrock dieser Tage auf Geburtstags-Tournee.

Hengelbrocks Antritt im Herbst markiert den Kreuzungspunkt zweier gegenläufiger Linien: Die Rebellen von einst kommen jetzt in den ehrwürdigen Kulturinstitutionen an, und die wiederum sind allerorten bisweilen fieberhaft mit ihrer Neuerfindung beschäftigt. Schließlich wollen sie das Wegsterben des Klassik-Publikums überleben.

Doch Hengelbrock steht nicht nur paradigmatisch für einen neuen Führungsstil, den der Generationenwechsel mit sich bringt. Auch konzeptionell beflügelt er den NDR derart, dass der seine Personalie mit dem Slogan "Neue Wege: Inspiration und Faszination" bewirbt. Der Dirigent, der im Sommer sein Bayreuth-Debüt geben wird und das "nicht aufregender findet als jede andere meiner bisherigen 72 oder 74 Opernpremieren", wird ins bislang überwiegend aufs Sinfonische abonnierte Orchester viel Vokalmusik hineintragen. Die klug komponierten Programme will Thomas Hengelbrock in Einführungen im Großen Saal jeweils eine Stunde vor Konzertbeginn persönlich erläutern. Mit seinem weich und hell eingefärbten Norddeutsch fortan in Hamburg über seine Ideen von Musik zu sprechen: Auch das dürfte ihm nach so vielen beruflich im Süden verbrachten Jahren einiges Vergnügen bereiten.