Der in Hamburg geborene Lebenskünstler Rafael Horzon berichtet in seinem Schelmenroman “Das weisse Buch“ von all den Existenzen in Berlin-Mitte.

Hamburg. Historisch geworden ist die jüngste Vergangenheit noch längst nicht. Wenn man dereinst aber etwas wissen will über das Berlin der Nachwendezeit, wird man auch zu einem unlängst erschienenen Buch greifen. Die pikareske, todlustige Selbstbeschreibung des Berliner Lebenskünstlers (um ein nie aus der Mode geratenes Wort zu verwenden) Rafael Horzon. Sie trägt den schönen Namen "Das weisse Buch", verkauft sich auch in Hamburg wie geschnitten Brot und könnte ein Klassiker werden.

Denn auf verquere Weise ist das 220 Seiten schmale Büchlein ein kleines Geschichtsbuch, das vor allem eines beschreibt: wie der Berliner Stadtteil Mitte zu dem wurde, was er heute ist. Die Hauptfigur, die Rafael Horzon heißt, in Hamburg geboren wurde, in München und Paris studierte, gibt es auch in Wirklichkeit so, sie ist durchaus bekannt in den Kreisen, die wir die Szene nennen. Horzon ist eine Art Unternehmer, dessen Unternehmungen stets genauso ernst wie unernst sind: Er ist der Chef von Moebel Horzon und Regalverkäufer mit Expansionsdrang, der Gründer der Berliner Wissenschaftsakademie, der Betreiber des Nachtklubs Pelham, der Erfinder der Modelinie Gelée Royale, neuerdings mit seinem "weissen Buch" (Horzon schreibt nach Doppelvokalen konsequent nicht "ß", wie es orthografisch richtig wäre) Buchautor. Unter anderem. Er ist ein Hansdampf in allen Gassen, und die liegen in Horzons Falle in dem sagenumwobenen Quartier zwischen Alexanderplatz und dem Wedding, Prenzlauer Berg und Spree, wo die Leute wahlweise sehr aufgeregt oder sehr gechillt sind, kommt immer auf die Perspektive an.

Horzon schreibt in seinem satirischen Bildungsroman von den mehr oder weniger bekannten Mitte-Existenzen, die sich untereinander gerne mal zitieren, hypen und angreifen, von den Journalisten, Intellektuellen und Studenten, den Künstlern und anderen Zugereisten (wer nicht im "weissen Buch" vorkommt, muss sich Gedanken machen). Einer, der neben Leuten wie Richter, Kracht und Goetz genannt wird, ist Moritz von Uslar, der in seinem Existenzroman "Waldstein" vor ein paar Jahren "Mitte", wie die Berliner sagen, als riesiges Paradies der Hänger und Faulenzer beschrieb.

Bei Horzon machen dagegen alle Kunst, und die ist seit dem französischen Pissoir-Ästheten Marcel Duchamp eine reichlich relative Sache. Es soll Galerien auch in Berlin gegeben haben, die einen Tisch in das leer stehende Erdgeschoss eines Altbaus am Hackeschen Markt gestellt haben und das Ganze ein Kunstwerk nannten. Die Setzung, dass alles Kunst ist (oder nichts), ist der Ort, von dem die schelmische und selbstironische Figur Horzon in ihrer Weltbetrachtung auf Mitte-Entdeckungsreise geht: Ihre Beziehung zu dieser Welt der Flaneure, Schwätzer, Könner und Hochstapler bleibt ambivalent.

Horzon ist ein irgendwie subversives Element in der Künstlerkaste, durch sein Dazugehören und gleichzeitiges Nicht-Dazugehören ist er zu einer zentralen Figur des Szenebezirks geworden. Es ist eine, die etwas zu erzählen, ja, die sich den wichtigsten Wesenszug einer auf instabilen Identifizierungen fußenden Existenz anverwandelt hat: Sie erlebt Dinge, die es wert sind, weitererzählt zu werden. Der Horzon im "weissen Buch", der von dem wahren Horzon wohl gar nicht so weit entfernt ist, erlebt immerzu etwas.

Im Berlin-Mitte des immens kreativen Ideenentwicklers wird eben keineswegs herumgehangen, sondern auf Teufel komm raus Thinktank gespielt: Einmal "gründet" Horzon eine Partnertrennungsagentur, Aufträge: null. Dann kümmert er sich wieder um Formen und Gestaltungen, seine größenwahnsinnige Agentur heißt "Redesigndeutschland" und will nicht nur das Land optisch neu ausrichten, sondern auch eine Universalsprache erfinden: "Wieso wir nein bekommen auftrags von ander menschs?"

Also, die Aufträge kommen auch da nicht, aber darum geht es eben auch nicht im Soziotop Mitte. Der Gedankenjongleur Horzon ist ein Mann der Innovation, eine Kunstfigur, von deren Programm "Das weisse Buch" kündet, es ist ein Programm, das das Leben in Mitte parodiert. Sowohl das "Projekt" Horzons als auch der Roman arbeiten mit dem Mittel der Übertreibung: "Wochenlang ernährte ich mich aus Geldnot nur von Eiweißpulver und Haferflocken, die ich, um teures Wasser zu sparen, trocken miteinander vermengte und einatmete. Immerhin entwickelte ich durch diese Diät eine derartige Muskelmasse, dass ich ernsthaft darüber nachdachte, meinen imposanten Körper an adelige Damen zu verkaufen."

Tja, natürlich muss das Geld irgendwo herkommen, und das tut es oft genug nicht. Horzon ist ein Spaßvogel, dessen notorischer Unernst neben anderem (dem konsequenten Ignorieren von Fakten und Schreibweisen) dem Joachim Lottmanns ähnelt. Auch Lottmann verhohnepipelt seit Jahren unter anderem die Berliner Boheme, in der einerseits der Schein wichtiger als das Sein ist und andererseits die Selbsterfindungen der Mitte-Figuren sowohl Antrieb als auch Kommentar des Zeitgeists sind.

"Das weisse Buch" schöpft seine Qualitäten nicht nur aus seinem exemplarischen Helden, sondern aus den literarischen Entscheidungen, die dem Habitus des spöttischen Klamauk-Getöse folgen. Der Held entkommt der akademischen Welt, indem er Pointen zur humanistischen Bildung und zu Derrida setzt. Die Kunst bietet in diesem komischen Entwicklungsroman (mit intertextuellen Verweisen auf Eichendorff und Thomas Mann) nicht das richtige Lebenskonzept, und so begibt sich Horzon auf den von ihm eloquent verteidigten "Dritten Weg" des Unternehmers, der freilich selbst zum Kunstwerk wird.

Die meistzitierte Stelle aus dem "weissen Buch", sie wird bald legendär sein, spielt im Möbelgeschäft, in dem es seit jeher nur ein Regal zu kaufen gibt: Ein Student verdächtigt den Regalverkäufer der Performance-Kunst: "Das ist doch kein richtiges Geschäft!" Horzons Antwort: "Es gibt ja nun keine objektiven Kriterien dafür, was Kunst ist und was nicht. Wenn ich diesen Möbelladen nicht zur Kunst erkläre, sondern zu einem Möbelladen, dann ist er natürlich auch keine Kunst, sondern ein Möbelladen."

Rafael Horzon: "Das weisse Buch". Suhrkamp. 218 S., 15 Euro