Einmaliges Spektakel: der spartenübergreifende Saisonabschluss “Ein Sommernachtstraum“ mit NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock in Essen.

Essen. Als diese Idee 2009 Form annahm, war Thomas Hengelbrock noch weit entfernt vom Chefposten beim NDR Sinfonieorchester. Gerade hat er seinen Vertrag um zwei Jahre bis 2016 verlängert, und inzwischen müsste man schon durch das In- und Ausland reisen, um einen umfassenden Eindruck davon zu bekommen, für welche Programmatik und Kombinationsfreude dieser Dirigent aktuell steht.

Fünfeinhalb Stunden Gesamtdauer (längere Verpflegungspausen mitgerechnet) wurden von der Philharmonie Essen angekündigt, für den spartenübergreifenden Saisonabschluss "Ein Sommernachtstraum" unter dem Motto "Blicke nicht zurück" als einmaliges Spektakel. Nur hier, nur eine Aufführung, keine kostensenkende Koproduktion mit anderen Häusern. Volles Risiko, und das beim Einheitspreis von 19 Euro. Kultur an Rhein und Ruhr, da kann man, allen von dort bekannten Finanzkatastrophen und Stümpereien zum Trotz, manchmal nun wirklich nicht meckern.

Zuerst also Monteverdis 405 Jahre alte Oper "L'Orfeo", bei der Hengelbrock mit seinen Freiburger Balthasar-Neumann-Ensembles viertelszenisch und mit einigen Requisiten und Kostümandeutungen ins Bild kam, danach die Premiere einer Idee des Essener Konzerthauschefs Johannes Bultmann: "Schatten (Eurydike sagt)", ein frischer Text der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, der die einseitig erzählte Geschichte um den antiken Sänger und seine verstorbene Liebe aus weiblicher Sicht weiterspinnt, als Einpersonendrama.

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"Wir haben zuerst einfach mal ganz oben angefragt", erzählte Bultmann, immer noch angenehm überrascht von der Zusage, kurz vor der Uraufführung; selbst die Wiener Burg muss noch bis Januar 2013 warten, bevor Hausherr Matthias Hartmann sich dort das fein gewobene Stöffchen als Regisseur vornehmen darf. Für den Abschluss bis kurz vor Mitternacht sorgte die Ballettcompagnie aus dem direkt benachbarten Aalto-Theater, das mit der Choreografie "Cherché, trouvé, perdu" von Patrick Delcroix auf einer Freiluftbühne im Philharmonie-Park den Orpheus-Akkord aus Musik, Theater und Tanz vervollständigte.

Zwei Drittel des intellektuell klug überbauten Herz-Schmerz-Abends trugen, im weiter gefassten Sinne, Hengelbrocks Handschrift. Er lief, wie auch die durch die Bank exzellenten Choristen und Solisten (auffallend gut: Nikolay Borchev als Orfeo), in Allerweltskleidung auf die Konzerthausbühne. Dirigierte zunächst, euphorisch mitmimend, mit dem Gesicht zum Publikum, ging wie ein Spielzüge erklärender Trainer in die Hocke, um den Blick aufs Ensemble nicht zu verstellen. Der leidenschaftliche Kleingruppendynamiker genoss diese kollektive Art der Abendgestaltung, er braucht das Gefühl, einer von vielen zu sein und nicht "der Chef", der von oben herab autoritäre Anweisungen gibt.

Die Instrumentalisten auf der Bühne verstehen sich längst blind mit ihrem Ensemblegründer, nichts wackelte, keine Balance zwischen Accompagnato und den handelnden Personen auf der Chor-Empore und vor dem Orchester verrutschte. Je ernster und tragischer die Geschichte über den Liebessuchenden in der Schattenwelt wurde, desto reduzierter und konzentrierter wurde auch Hengelbrocks präzise Gestik. Diese Musik ist für ihn Heimspiel und Bekenntnis, das Fundament, auf dem er seine stilverfeinernde Arbeit beim NDR-Orchester aufbaut.

Der nächste Akt, gut eine Stunde lang, gehörte ganz und gar Johanna Wokalek, Hengelbrocks Lebensgefährtin. Die Burgtheater-Schauspielerin rezitierte, hochschwanger in Signalrot auf einem Kleiderberg thronend, den vor sich hin fabulierenden Jelinek-Text. Den Textilhaufen und die Videoleinwand, auf der meditative Schwarz-Weiß-Bilder parkten, hatte ihr der Hamburger Designer Peter Schmidt in bewährter Minimalismus-Manie als Bühnenbild verordnet, weil er gern geholt wird, wenn wenig nach mehr aussehen soll. Klar wurde dadurch: Der Text, mikrofonverstärkt, weil er in der Konzerthaus-Akustik nach leiser Intensität verlangt, hat hier Vorfahrt. Jelineks Eurydike, in die Moderne übertragen und Frau eines namenlosen Sängers, der sich vor seinen Fans nicht retten kann, leidet unter Kaufrausch, Klamottensucht und der Angst, mit allem und für jeden sichtbar sein zu müssen. Ihre Sätze schaukeln sich hoch in diese jelinektypische Hysterie, die nach Nägelkauen klingt, nach Depressionen, Magengeschwüren, kurzatmigem Abwehrkichern und Hilfe suchender Verzweiflung. Wortschwalle, die das Nichts verhüllen und den Abgrund offenlegen. "Ich bin - nicht mehr - da - ich bin ..." Schluss, die Pose in Schreckstarre vereist.

Fünf Stunden nach den ersten Monteverdi-Klängen verdunkelte sich die letzte Bühne für den dritten Akt in der halbwegs lauen Essener Sommernacht. Delcroix' Arbeit verwendete Zeitgenössisches von Arvo Pärt, die Tänzerinnen und Tänzer waren im Scheinwerferlicht vor allem damit beschäftigt, durch unentwegte Motorik für das immer noch reichlich anwesende Publikum weithin sichtbar zu sein. Das war nicht allzu viel und erzählte auch keine konkrete Geschichte, aber es genügte, um den programmatischen Kreis angemessen zu schließen. Solche Dreistil-Abende in Hamburg? Das ist - noch - nur ein Traum.