Martin Dreyer machte Gott in Hamburg szenetauglich, missionierte mit den “Jesus Freaks“ Rocker, Zuhälter, Junkies - bis er selbst abstürzte.

Das Gleichnis vom Sämann mag er besonders gern, die Stelle im Matthäus-Evangelium, Kapitel 13,1. Da erzählt Jesus voneinem Mann, dessen Samen nur dort gedeiht, wo der Boden fruchtbar ist, aber nicht unter Dornen, auf Steinen, am Wegesrand. Im Bibeldeutsch Martin Dreyers geht die Geschichte so: "Ein Programmierer saß an seinem Rechner und schrieb eine neue Software. Auf alten Rechnern lief sie überhaupt nicht. Bei Computern, die eine gute Hardware hatten, lief das Programm aber ganz hervorragend und machte sich hundertfach bezahlt."

+++Die Erneuerungsbewegung der "Jesus Freaks"+++

Ein Café in Berlin-Friedrichshain, unweit der S-Bahn-Station Ostkreuz, zwölf Uhr mittags. Auf mintgrünen Ledersofas startet Berlins Online-Boheme mit Laptop-Sessions zu Croissant und Galao soeben in die Arbeitswoche, man hört wie immer mehr Spanisch und Englisch als Deutsch oder Berlinerisch. Martin Dreyer wirkt auffällig "underdressed" in diesem Ambiente, simples schwarzes T-Shirt, Jeans, Turnschuhe, dazu ein dunkelblauer Rollkoffer voll mit Volxbibeln.

Dreyer, 47, wohnt ums Eck und ist auf halbem Weg zum Bahnhof: eine Lesung in Wittenberg mit anschließendem Bücherverkauf, so was macht er im Schnitt ein- bis zweimal pro Woche. Sein schwarzer Schopf schimmert an ein paar Stellen grau, ansonsten sieht er frisch aus, ein Hüne mit zarten Zügen, aufgeräumtem Blick und häufigem Lächeln. Seit Mai 2011 ist er Vater einer Tochter. Er sagt: "Ich bin heute glücklicher denn je."

Das allein ist für manchen daheim eine bemerkenswerte Nachricht. In seiner Geburtsstadt Hamburg gelangte Dreyer in den 90er-Jahren zu einigem Ruhm, eine Zeit lang sprach fast jeder Christ in Deutschland über ihn, allerdings weniger als Normalo, mehr als Freak. Als einen, der diese vermeintlich überaltete, verkrustete, mit harmlosen Geistern gespeiste Institution Kirche mit einem bis dato unvorstellbaren Flair versah. Er war der Fromme mit Lederjacke und Punk-Vergangenheit, ein Jesus-Prediger, der Gras von Shit und Crack von Speedball unterscheiden konnte und jede Menge Leute zum christlichen Glauben bekehrte, die dafür längst verloren schienen. Irgendwann war er dann selbst ein Verlorener. Alles in allem: ein sehr spezieller Geist.

Sein Leben begann er als drittes Kind eines Rechtsberaters und einer Hausfrau in einem Poppenbütteler Flachdachhaus mit Obstbäumen und großem Rasen vor der Tür. Die Kindheit war glücklich, sagt er. Seine Teenagerzeit lag in den frühen 80ern, als Punks und Mods mit Rockern und Poppern kämpften, jeder halbwegs tapfere Halbwüchsige gegen irgendwas war und die Ära der Casting-Shows noch in weiter Ferne lag. Martin trug damals einen roten Irokesen-Schnitt, machte sich einen Spaß daraus, im Block House zu kiffen und im Kleiderschrank Hanf zu züchten, bis seine Mutter den Pflanzen mit Nagellackentferner den Garaus machte. Es gibt aus dieser Zeit wilde Fotos von ihm, beim Pogotanzen in Springerstiefeln.

Seine Lebenswende hin zu Jesus begann, als seine Schwester ihn eines Tages zu einem "charismatischen Gottesdienst" in die St.-Petri-Kirche mitschleppte, wo der damalige Pastor Wolfram Kopfermann, der spätere Gründer der freien Anskar-Kirche, modern gestaltete Messen mit Pop-Songs, in Alltagssprache und ohne Ehrfurchtsgebaren zelebrierte. Martin war geflasht. Danach hatte er Bekehrungserlebnisse, etwa bei einer Straßenmission in Amsterdam, auf einem Containerschiff nach Brasilien, einem Punkkonzert in Bilbao. Martin Dreyer schmiss die Drogen in die Tonne, der Heilige Geist versprach die bessere Dröhnung. Er beschloss, sein Leben dem Heiland zu schenken, wenn auch einem anderen als dem gemeinhin bekannten. Es galt, ein neues Jesusbild zu finden, diesen Jesus zu lösen vom Kirchenimage, von der Lebens-, Lust- und Milieufeindlichkeit. "Jesus war selbst wie ein Punk", sagt Dreyer. Ein Prediger in Amsterdam sagte zu ihm: "Du bist ein Matthäus." Soll heißen: Es sei ihm gegeben, die Botschaft des Herrn in eine neue, heutige Sprache zu übersetzen.

Im September 1991 begannen Martin, seine Freunde Kuky und Tobi mit den "Jesus-Abhäng-Abenden", zunächst in Dreyers Wohnzimmer in Winterhude, später im Café Augenblicke auf dem Schulterblatt, im Marquee und im Rap-Club auf St. Pauli. Der Zuspruch war ungewöhnlich. Dreyer & Co. sprachen die Sprache der Straße, sie veranstalteten messeähnliche Treffen mit viel Improvisation und direkter Ansprache, ohne das Salbungsvolle herkömmlicher Liturgie. Martin taufte erwachsene, stadtbekannte Ex-Schläger in der Alster mit den Worten "Willst du Jesus zu deinem Chef machen?" Er hielt Predigten, nach denen sich gestandene Kiez-Größen auf den Boden schmissen und reihenweise riefen: "Vergib mir, dass ich ständig Pornos anschaue! Ich hab keinen Bock mehr auf dieses ständige Lügen! Jesus, gib mir dein Feuer!"

Nach einem ersten "taz"-Artikel 1993 waren die "Jesus Freaks", wie sich die Bewegung nun nannte, eine Zeit lang in allen Medien. Zum Gottesdienst freitagabends im Rap-Club kamen regelmäßig 800 Leute, zum jährlich stattfindenden Musikfestival "Freakstock" bis zu 8000. Und Martin durfte Jürgen von der Lippe in dessen Talkshow "Wat is" das Geheimnis seines Erfolges erklären. Heute umschreibt er dieses Geheimnis so: "Wir meinen, was wir sagen. Uns geht es um das Wesentliche, den echten Glauben, den Bock auf Jesus. Jesus selbst würde heute als Erstes vermutlich die Kirche auflösen."

Seine Erfahrungen, Erleuchtungen und Entbehrungen als Kiez-Prediger samt steilem Aufstieg und jähem Absturz, hat Martin Dreyer nun aufgeschrieben. Seine Autobiografie "Jesus-Freak" ist wie erwartet kein literarisches Glanzstück, dafür bietet sie fesselnde, mitunter anrührende Einblicke in das Leben, Wirken und Denken dieses schillernden Hamburger Rebellen im Glauben.

Mit Dreyers Absturz, seinem beschwerlichen Heilungsweg beginnt und endet das Buch. Im August 1999 fand man ihn in seiner Wohnung, eine Überdosis Heroin und Kokain intus, zwei Minuten lang hatte er nicht geatmet. Erinnerungsvermögen und Orientierungssinn blieben jahrelang gestört. Über Nacht war er nicht mehr "Christ des Jahres", sondern "Junkie des Jahres". Die "Jesus Freaks" sagten sich von ihm los. Er war ganz unten. Die Rettung brachten zahlreiche Therapien, Antidepressiva, ein Mann namens Rudi und eine Frau namens Rahel. Sowie natürlich: sein eigener, persönlicher Jesus.

"Mit Gott durch die Wüste" war das Thema vieler Dreyer-Predigten nach 1999, in denen er sein biografisches Ägypten zur Sprache brachte und seinen Weg zurück zu Gott, ins Gelobte Land. Irgendwann in dieser Zeit begann er auf Anregung eines befreundeten Pastors mit einer Neuübersetzung der Heiligen Schrift. Die Volxbibel, im Dezember 2005 erschienen, wurde ein Bestseller, von Kirchenseite verfemt und monatelang Talkshow-Thema. Fruchtbare Erde wird dort zu guter Hardware, ein Laib Brot zu einer Tüte Chips, ein Schweinehirte zum Toilettenmann bei McDonald's.

Seit 2006 steht die Volxbibel online, jeder kann dort Vorschläge zur zeitgemäßen Übersetzung machen. Knapp fünf Millionen mal wurde die Seite seither aufgerufen. Die Volxbibel ist Dreyers bei Weitem wirkmächtigste Tat - sein Matthäus-Evangelium im Dauer-Update von der Straße, dem Volk aufs Maul geschaut, um es in den Worten des großen Bibelübersetzers Martin Luther zu sagen. Der Martin Dreyer 2012 hat seinen Frieden mit sich und den "Jesus Freaks" längst gemacht. Der von ihm gegründeten Organisation mit ihren bundesweit rund 100 Gruppen dient er als Berater im Hintergrund, auf dem Freakstock-Festival hält er jährlich die Hauptpredigt. Ansonsten verdingt er sich als Vortragsreisender, Gastprediger und Autor. Der Zufall will es, dass er, der seine wildesten Jahre in Hamburg hatte, im neuen Wohnort Berlin zur Ruhe gekommen ist, in der Kapitale des agnostischen Hedonismus, ausgerechnet. Was ihn im Übrigen mitnichten stört. Sonntags gehen er und seine Frau Rahel zum Gottesdienst, in Kirchen übers ganze Stadtgebiet verteilt. "Es gibt auch in Berlin viele tolle Gemeinden", sagt er. Hamburg bleibe seine Heimat und große Liebe. Irgendwann möchte er hierher zurück.

Seinem eigenen, persönlichen Jesus fühlt er sich näher denn je. Er bete eigentlich ständig, sagt er, so oft es gehe. Den Morgen beginne er mit einem "Hallo Jesus", dann schreibe er sich all seine Gedanken auf einen Zettel und "bete sie ab". Dann Bibellektüre, dann das tägliche Gebet mit seiner kleinen Tochter, im Auto hört er Predigten. In der U-Bahn bete er leise, damit die Leute ihn nicht für "ballaballa" halten, ansonsten am liebsten laut. Er bittet Jesus, er dankt Jesus, er erzählt Jesus von allem, was ihn umtreibt.

Und zwischendurch erlebe er auch, dass Jesus zu ihm spreche, dass ihn Gedanken erreichen, die von Gott kommen. Im Szenecafé von Friedrichshain ist Dreyer beim Credo angekommen. "Wischiwaschi-Religion war nie mein Ding, ich brauche ein Gegenüber. Und diesen Jesus gibt es wirklich, er hat einen Namen, einen Charakter, eine Stimme, eine Energie. Fängst du erst mal an, mit ihm zu reden, zu leben, dann merkst du das von selbst. Jesus hat kein Facebook-Profil, aber er ist trotzdem da."

Martin Dreyer lächelt jetzt. Er scheint zu glauben, was er da sagt.

Martin Dreyer: "Jesus-Freak". Leben zwischen Kiez, Koks und Kirche. Pattloch Verlag. 304 S., 18 Euro