Nach “Große Freiheit“ hat Der Graf mit dem neuen Unheilig-Album “Lichter der Stadt“ einen gnadenlos konsequenten Nachfolger aufgenommen.

Hamburg. Eigentlich bräuchte Unheilig-Sänger Der Graf einen neuen Künstlernamen: Graf Zahl. Einmal Platin! Zweimal Platin! Dreimal Platin ... Siebenmal Platin! Blitz und Donner! Graf Zahl, der Sesamstraßen-Vampir mit dem krankhaften Zählzwang, hätte jedenfalls seine dunkle Freude an Unheilig. 1,5 Millionen Fans in Deutschland, Österreich und in der Schweiz rissen vor zwei Jahren Unheiligs siebtes Album "Große Freiheit" aus Regalen und Portalen. Insgesamt 23 Wochen hing die Platte an der Spitze der Charts und schaute, kopfüber von der Decke baumelnd wie eine Fledermaus, auf die Konkurrenz hinab. Ein irrsinniger Hype um einen romantischen Düster-Dandy aus Aachen und seine Band, der durch einen Tour- und TV-Marathon noch angefacht wurde. Und mitten in diesem Wahnwitz entstand schon das neue Werk "Lichter der Stadt", das am heutigen Freitag erscheint.

"TV-Reisen, Radioreisen, Klubtouren, Autogrammstunden, Preisverleihungen, alles auf einmal: Das war auch für mich neu, obwohl wir seit zehn Jahren dabei sind", erinnert sich Der Graf beim Interview in einem Hamburger Tonstudio. Entspannt sitzt er, natürlich im Anzug, auf dem Sofa und blickt ausführlich zurück. Aus einer geplanten halben Stunde wird eine ganze. Jetzt kann er sich das leisten. "Ich hatte nie Zeit, um die neuen Eindrücke zu verarbeiten. Alles drehte sich, alles bewegte sich. Diese riesigen Großstädte, die Lichter der Nacht, das Rasen der Zeit, das musste ich mir von der Seele schreiben." Nicht, dass er den Erfolg nicht genossen hätte, aber irgendwann war der Punkt erreicht, wo der Graf sich fühlte wie Arbeiter 11811 in Fritz Langs "Metropolis" - der Mensch als gehetztes Uhrwerk, ohne Zeit zur Entfaltung.

Von da an richtete sich Der Graf ein mobiles Studio ein, das überall dabei war, und zog sich bei jeder Gelegenheit dorthin zurück, um seine Inspirationen, das urbane Leben mit seinen Licht- und Schattenseiten, Nähe und Anonymität in Text und Ton zu fassen. Stadtluft macht frei, Stadtluft erstickt.

Zwar ist der inhaltliche Kontrast von "Lichter der Stadt" zum maritimen, Horizonte überschreitenden Vorgänger "Große Freiheit" auffällig, dennoch ist es ein typisches Unheilig-Album geworden. Midtempo-Gothpop ("Tage wie Gold", "Das Leben ist schön") und kitschige Radioballaden ("Unsterblich", "So wie du warst") dominieren die 15 Lieder plus Instrumental-Outro, dazu wird mit "Herzwerk", "Eisenmann" und "Feuerland" kurz, aber heftig die Neue-Deutsche-Härte-Keule ausgepackt. Erneut bedient Der Graf die Schnittmenge zwischen Grönemeyer und Rammstein.

Ob Ballade oder Brecher: Klangkonsens ist der von gleich vier Produzenten angerührte Bombast-Beton. Sinnbildlich beginnt das mit Hans-Zimmer-Opulenz orchestrierte Intro "Das Licht" mit Vogelzwitschern, welches von Luftalarmsirenen, Marschtritten und Streicherschwere zerstampft wird und in den Rammstein-Prügel "Herzwerk" übergeht. Aber wo Der Graf ist, da ist Hoffnung. Da sind die ausgebreiteten Arme des Pathos, bereit zur Umarmung: "Ich halte dich, ich will nie mehr alleine sein." Alleine ist er auch nicht: Bei "Wie wir waren" singt der Berliner Wohlfühl-Popsänger Andreas Bourani mit, bei "Zeitreise" der zweite große Menschenfischer neben Unheilig, Xavier Naidoo. "Ich habe ihm das Lied zugeschickt und einen Tag später kam es mit seinem Text und seinen Melodien zurück. Unglaublich", erzählt Der Graf.

Der Klubhit "Das weiße Licht" der Braunschweiger Crossover-Rockband Oomph! brachte den Grafen 1999 dazu, auf Deutsch zu singen. Und Licht ist auch das zentrale Element auf Unheiligs Neuling. Sehr viel Licht. In mindestens neun von 15 Texten tauchen die Wörter Licht, Lichter oder Lichtermeer auf. "Bei dem Albumtitel muss dieses Sinnbild Licht immer vor Augen sein. Ohne Licht kein Leben, ohne Licht kein Schatten", fasst Der Graf sein Motiv zusammen. "Wirf ein Licht auf dein Leben, folge deinem eigenen Stern", ist einer dieser ins Herz der Fans gezielten schlichten Leitsätze aus dem Song "Ein großes Leben". Bei Konzerten wird er zum Schwenken der LED-Winkelemente vom Fanshop einladen.

Oder zum Mitklatschen in "Willkommen bei Carmen Nebel", wo Unheilig auch schon aufgetreten ist. "Das war wie in Wacken, nur dass das Publikum da nicht besoffen ist", lacht Der Graf, um dann ernst zu werden: "Man darf doch Menschen nicht katalogisieren. Wie borniert und arrogant wäre es, als erfolgreichster Künstler 2010 da nicht aufzutreten?" Der Graf will so vielen Menschen wie möglich etwas geben. Man muss es ja nicht nehmen.

Aus dem Nachtschatten der schwarzen Szene ist er in den Schein des Massengeschmacks getreten und hat dafür von Fans früher Tage viel Kontra bekommen. Das neue Album wird mit seinen lyrischen Lichterketten und seiner gnadenlos auf Breitenwirkung angelegten Produktion, die eher erschlägt als erleuchtet, nichts daran ändern. "Lichter der Stadt" ist die logische Fortsetzung des Vorgängers. So steht einem weiteren Höhenflug nichts entgegen. Obwohl Der Graf Flugangst hat.

Unheilig: "Lichter der Stadt" (Universal), Autogrammstunde 29.3., 15.00, bei Saturn Innenstadt