Schriftsteller Wolfgang Herrndorf und die anderen für den Preis der Leipziger Buchmesse Nominierten lesen heute Abend im Literaturhaus.

Hamburg. Wer zum zweiten Male in Folge für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, der darf durchaus als Favorit gelten. Vor allem wenn er wie Wolfgang Herrndorf beinah ausschließlich gut besprochen worden ist. Herrndorf, 1965 in Hamburg geboren, werden große Chancen eingeräumt, mit dem parodistischen Agententhriller "Sand" die mit 15 000 Euro dotierte Auszeichnung zu ergattern.

Seit 2005 wird der Preis jeweils am ersten Messetag (in diesem Jahr am Donnerstag kommender Woche) vergeben: in den Kategorien Belletristik, Sachbuch und Übersetzung. Sehen und hören kann man die Roman-Finalisten schon heute Abend. Am Schwanenwik stellen sich auf Einladung von Literaturhaus und NDR Kultur Anna Katharina Hahn, Jens Sparschuh, Sherko Fatah und Thomas von Steinaecker vor.

+++ Roman "Sand": Ein Mann verliert sich in der Wüste +++

Der seit Längerem schwer erkrankte und fast nie leibhaftig in die Öffentlichkeit gehende Herrndorf wird von der Journalistin und Schriftstellerin Kathrin Passig ("Sie befinden sich hier") vertreten. Aber ganz gleich, wer den Figuren in dem stellenweise sagenhaft witzigen, absurden und nicht leicht zu dechiffrierenden Roman "Sand" seine Stimme gibt: Es wird ihm und in diesem Falle ihr (Kathrin Passig) sicher gelingen, die literarischen Qualitäten des rasanten und oft rätselhaften Buchs zur Geltung zu bringen und das Kopfkino anzuwerfen: Herrndorfs Text löst ein körniges Nacheinander hitzeflimmernder Bilder aus.

Durch sie hetzt ein namenloser Simpel, der auf der Suche nach Identität ist. Der komische und konzentrierte Text sendet also auch Zeichen aus, die auf eine philosophische und tiefgründige Deutung zielen. Er ist viel mehr als eine gut geschriebene Agentenklamotte; und er kann dennoch auch schlicht als handlungsreicher Krimi gelesen werden. Im vergangenen Jahr war Herrndorf mit seiner Coming-of-age-Geschichte "Tschick" nominiert. Schon da hätte der bloggende Autor (www.wolfgang-herrndorf.de ) aus Berlin-Mitte den Preis verdient gehabt. Herrndorfs schmales Werk bedient inzwischen einige Genres: das literarische Roadmovie ("Tschick"), den sogenannten Berlin- oder auch Pop-Roman ("In Plüschgewittern"), die Erzählung ("Diesseits des Van-Allen-Gürtels"), jetzt den Thriller ("Sand"). Zu viel des Guten? Nein: Bewundernswert.

Weil die Vergabe von Literaturpreisen nicht den Regeln sportlicher Wettbewerbe folgt und künstlerische Qualität nicht messbar ist, vermag man das Urteil der Preisrichter kaum vorauszusagen. Ihre ästhetischen Einschätzungen haben kein festes Fundament, sie sind - Gott sei's gedankt - unbedingt auf Sand gebaut. Nicht weil sie wankelmütig und beliebig wären, nein: sondern weil sie in Bezug auf ihre Neigungen durchlässig sind.

Die Leipziger Jury, bestehend aus Buchkritikern, Literaturwissenschaftlern und Autoren, entschied sich bei der Auswahl der Finalrunde (gerne Shortlist" genannt) auch für Titel, auf die man zunächst nicht gekommen wäre.

Da ist zum Beispiel Sherko Fatah, 1964 in Ost-Berlin geborener Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen. Fatah ist kein ganz Unbekannter, er war auch schon einmal für den Deutschen Buchpreis nominiert, der jeden Herbst in Frankfurt vergeben wird. Sein ost-westlicher (Anti-)Bildungsroman "Ein weißes Land" ist ein solide geschriebenes, überaus spannendes Buch mit einem ganz und gar unwahrscheinlichen Thema.

+++ Heidelberger Literaturpreis für Wolfgang Herrndorf +++

Erzählt wird die Geschichte des 1921 in Bagdad geborenen Anwar, der ein Gassenjunge ist und einfach gestrickt. Er bewältigt seinen Alltag, indem er sich verschiedenen Herren andient: dem Anführer einer Diebesbande, dem Strippenzieher bei den Nationalisten. Später wird er Laufbursche für den Großmufti. Auch der kämpft gegen die englischen Besatzer. Nach einem gescheiterten Putschversuch reist der religiöse Führer ins Weltkriegs-Europa, um mit den Nazis eine Allianz zu schmieden. Anwar begleitet ihn, wird Soldat in der Waffen-SS und zum Kriegsverbrecher im Schlachthaus Osteuropa (einen muslimischen Verband der SS gab es wirklich!). Wie durch ein Wunder überlebt er den Krieg, der für den ungebildeten jungen Mann, der sich nie ganz mit einer Sache gemeinmacht, wie ein Abenteuer anmutet.

Sein Antrieb war immer ein diffuser Aufstiegswille, und erst am Ende bemerkt er seine moralische Verderbtheit: ein Verlorener.

Verloren ist auch der Bürgersohn Peter in Anna Katharina Hahns Roman "Am schwarzen Berg". Er ist eine Art Gegenfigur zu den unzufriedenen Kindern, die die Neuerscheinungen der vergangenen Saison bevölkerten. Bei Andreas Altmann und Oskar Roehler traten Erzähler auf, die eine furchtbare, bisweilen verwahrloste Kindheit hatten. Der Logopäde Peter wächst dagegen überbehütet und sorgenfrei auf. Unter anderem, weil sich durch das kinderlose Nachbarsehepaar die Zahl der Eltern gleichsam verdoppelt.

Als ihn die Frau verlässt, weil der ehrgeizlose Mann mit den Söhnen gegen Stuttgart 21 demonstriert, anstatt zu arbeiten, stürzt Peter in eine Depression. Hahns Milieustudie erinnert an Dieter Wellershoff: Für ihr Schwaben-Drama transferiert die Autorin dessen Kölner Realismus an den Neckar.

Immerhin zwei der fünf ausgewählten Titel lassen sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Sowohl bei Jens Sparschuh (geboren 1955 in Karl-Marx-Stadt) und Thomas von Steinaecker (geboren 1977 in Traunstein) geht es, grob gesprochen, um die Verwertungsmechanismen des Kapitalismus.

In Sparschuhs groteskem Roman "Im Kasten" ist allerdings ein planender Wirtschafter und Kapitalismuskritiker am Werk: Hannes Felix arbeitet für eine Firma, die den Konsummenschen Stellplätze für ihre ausgelagerten Dinge bietet. Der tragische Held der Einmottung steigert sich in einen regelrechten Wahn auf seiner Suche nach Ordnung. Schließlich muss alles immer weniger werden. Auch er: Am Ende ist er wirklich verrückt. Aber der Leser hat viel geschmunzelt.

Eine Effizienzmaschine anderer Art ist Thomas von Steinaeckers Versicherungsvermittlerin Renate Meißner. Sie wird aufgrund der Finanzkrise arbeitslos: Es ist "Das Jahr in dem ich aufhörte mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen". Der Roman beginnt als rücksichtsloser Erfahrungsbericht aus der zynischen Welt der Risiko-Makler und endet als Märchen, das aus dem tablettensüchtigen Werkzeug ein freies Wesen macht. Mehr oder weniger.

Bewerber 1 - Anna Katharina Hahn: Am Schwarzen Berg. Suhrkamp. 236 S., 19,95

Bewerber 2 - Sherko Fatah: Ein weißes Land. Luchterhand. 480 S., 21,99

Bewerber 3 - Jens Sparschuh: Im Kasten. Kiepenheuer & Witsch. 223 S., 18,99

Bewerber 4 - Thomas von Steinaecker: Das Jahr in dem ich aufhörte mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen. S. Fischer. 399 S., 19,99

Bewerber 5 - Wolfgang Herrndorf: Sand. Rowohlt. 480 S., 19,90

Die Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse 2012 lesen heute Abend, 19.30 Uhr, im Literaturhaus, Karten 10/8/6 Euro