Grjasnowa stammt aus der Sowjetunion und lebt in Frankfurt. Von ihrem Leben zwischen den Welten erzählt sie in “Der Russe ist einer, der Birken liebt“.

Der Titel von Olga Grjasnowas Debütroman ist seltsam: "Der Russe ist einer, der Birken liebt". Die Birke ist eine Metapher für die russische Seele, das weiß man von Tschechow. Aufgeklärt wird der Leser darüber nicht, und das muss er auch nicht. Allein die Vorstellung ist poetisch und auch ein bisschen fremd. So fremd, wie den Ausgewanderten die alte Heimat ist. Mascha, die Heldin in Grjasnowas Buch, stammt wie die Autorin aus Baku in Aserbaidschan. Nun lebt sie in Frankfurt.

Verglichen mit den Wohlstandsoasen des Westens wirkt der Herkunftsort wie der wilde Osten. Er ist anarchisch, gefährlich und birgt traumatische Erfahrungen. Auf seinem Boden spielen Geschichten von Gewalt, Abschied und Verlust. Davon erzählt Grjasnowa, Jahrgang 1984, so wie vorher bereits die Hamburgerin Nino Haratischwili von ihnen erzählt hat; in ihrem jüngsten Buch, dem Familiendrama "Mein sanfter Zwilling". Haratischwili ist ein Jahr älter als Grjasnowa, sie stammt aus Georgien. Grjasnowa selbst wuchs im Kaukasus auf, kam dann mit ihrer Familie nach Deutschland.

Sie ist nach Haratischwili und Alina Bronsky (geboren 1978 im Uralgebirge, ihr Roman "Scherbenpark" war 2008 ein großer Erfolg) die dritte auf Deutsch schreibende Autorin, die noch in der Sowjetunion geboren wurde und nach deren Implosion vor 20 Jahren Zeugin der politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen wurde.

Der bewundernswerte Umstand, dass sich hier junge Frauen in die Literatur einer Sprachgemeinschaft hineinschreiben, zu der sie verspätet gestoßen sind, wird von einer Entdeckung begleitet, die nicht minder bemerkenswert ist: Sowohl Haratischwili als auch Grjasnowa haben etwas zu erzählen. Das betrifft das gelungene Debüt der in Berlin lebenden Grjasnowa im Besonderen. Ihr Buch ist einerseits ein Trauerbuch, das den Verlust der einstigen Heimat beklagt. Andererseits hat sich seine Hauptfigur, die 27-jährige Mascha, längst im Transit eingerichtet.

Olga Grjasnowas Heldin Mascha spricht fünf Sprachen

In der Heimatlosigkeit: Der Roman endet auf einem Feld im Westjordanland, "in Palästina", wie die Protagonistin mitteilt, "ich stehe mitten in einem Feld". Verlorener könnte jemand nicht sein als diese junge Frau, die getürmt ist: von einer Hochzeit in Jenin, wohin sie eine palästinensische Zufallsbekanntschaft mitgenommen hatte. Die getürmt ist aus Frankfurt, wo sie mit ihrem Freund gelebt hat, ihren Eltern und ihren Freunden, Sami und Cem zum Beispiel. Jungen Männern, die wie Mascha einen Migrationshintergrund haben, wie man auf Politikerdeutsch sagt.

Mascha ist ein Genie, sie spricht fünf Sprachen. Eine davon ist Russisch. Denn das erste Mal getürmt ist sie aus Armenien, 1996, da waren die Pogrome schon vorbei. Die Aserbaidschaner mussten vor den Armeniern fliehen. Es ging um die Zugehörigkeit der Provinz Bergkarabach. Nach dem Ende der Sowjetunion wurden die Grenzen neu gezogen und alte Rechnungen beglichen. Maschas Familie gehörte der russischen Minderheit an (es ist alles ein bisschen kompliziert im sozialistischen Vielvölkerstaat). Sie gehört zum Kontingent jüdischer Flüchtlinge, das zur Vergrößerung der Gemeinden in Deutschland beitragen soll.

Mascha ist also, in einem Wort, eine Außenseiterin. Natürlich gehört sie auch der Generation an, die ungebunden und flamboyant durch die Welt reist, studiert und kommuniziert. Wer heute jung ist, wächst mit einem anderen Verständnis für Distanzen auf. Wer heute jung ist, ist auf bestimmte Weise sowieso schon weltgewandt. Man nennt das Globalisierung. Mascha ist Übersetzerin, sie lebt vom interkulturellen und bilateralen Transfer.

Und doch ist sie eine Versehrte, der die Grenzübergänge Wunden geschlagen haben. Wie Haratischwilis Helden hat Mascha eine dunkle Vergangenheit, sie erzählt eine Geschichte der Gewalt. Deutschland ist nie das Paradies, der Vater findet dort nicht mehr ins Leben. Er, der in der Raumfahrt arbeitete, wird im Westen nicht gebraucht. Und Mascha, die Heranwachsende, durchlebt in der neuen Welt alle Formen des Anpassungsdrucks: "1996 waren wir in Deutschland. 1997 dachte ich zum ersten Mal über Selbstmord nach."

Ihre besten Freunde werden Menschen, deren Wurzeln auch woanders liegen. Sie, die Jüdin, und jene, die Muslime, werden zur verschworenen Gemeinschaft, die sich über deutsche Spießer lustig machen und trotzig ihre vielfachen Prägungen verteidigen, leben und nutzen. "Der Russe ist einer, der Birken liebt" ist schnörkellos geschrieben und immer packend. Und eigentlich ein Liebesroman, der von der Trauer einer jungen Frau berichtet, deren Lebensgefährte stirbt.

Wenn Olga Grjasnowa von der geografischen Unruhe der früh Entwurzelten erzählt, dann gibt sie dem vielfachen Wechsel des Schauplatzes eine zweite psychologische Motivation. Nach dem Tod des Freundes hält sie es an keinem Ort mehr aus, und sie umgibt sich mit all denen, die keine Heimat haben. Ob in Deutschland oder Israel. Manchmal erscheint der Erzähldrang der Autorin zügellos, trotzdem ist das Geschehen nicht unwahrscheinlich: Maschas Ortlosigkeit spiegelt sich in ihrer sexuellen Ambivalenz.

Was ist deutsch, was israelisch, was russisch oder georgisch?

In der amerikanischen Literatur sind es der in St. Petersburg geborene Gary Shteyngart ("Super Sad True Love Story") und Jonathan Safran Foer ("Alles ist erleuchtet"), die von Russland, der untergegangenen Sowjetunion, der jüdischen Katastrophe und der Begegnung von Ost und West erzählen.

Hierzulande sind es mit Grjasnowa und Haratischwili zufälligerweise zwei Frauen, die sich mit Erzählungen, die bei der einen mehr, bei der anderen weniger ihre Motive aus der Realität nehmen, in der Gegenwartsliteratur zu Wort melden. Grjasnowa, die schnelle und scharfe Erzählerin, lässt ihrer Mascha am Ende keinen Kompass und eine Identität im Spiegelkabinett. Ihre Heldin ist in Frankfurt eine Russin, in Israel eine Deutsche. Die Zuschreibungen bleiben jedem selbst überlassen - was ist deutsch, was israelisch, was russisch oder georgisch? Die Russen, sagt eine von Grjasnowas Figuren, ein Araber, sehen aus "wie Leute, die Birken lieben".

Olga Grjasnowa: "Der Russe ist einer, der Birken liebt". Hanser, 288 Seiten, 18,90 Euro