Gerd Heinz entdeckt Samuel Becketts Klassiker in seiner klugen, fesselnden Inszenierung neu.

Hamburg. Bergketten sind mit Kreidestrichen auf die schwarzen Wände skizziert. Pfeile weisen die Richtung. Ein hoher Holzblock verbarrikadiert die Straße. An der Rampe steht ein Grenzpfahl. Wladimir und Estragon sind offenbar Flüchtlinge, die in den französischen Alpen auf einen Schleuser warten.

Gerd Heinz ließ sich zu seiner großartigen Inszenierung von Becketts existenzieller Clowneske "Warten auf Godot" durch Valentin Temkine inspirieren. Der französische Theaterhistoriker hat das Original des Stücks genau gelesen und entschlüsselt. Demnach spielt es 1943 in Südfrankreich während der Nazi-Besetzung. Beckett, selbst in der Resistance flüchtig, wehrte sich zeitlebens gegen eine Definition von Figuren und Ort. Aus gutem Grund. Er wollte platte Interpretationen verhindern.

Heinz' Zugriff auf das Stück ist jedoch meilenweit davon entfernt. In Lilot Hegis Raum mit der kantigen Holzskulptur choreografiert er die Gänge von Charles Brauer (Wladimir) und Werner Rehm (Estragon) auf dem mit Split bestreuten Boden. Nur das Knirschen der Schritte erklingt. Keine Musik, aber ein fernes Grollen. Brauer und Rehm sind ein wunderbar eingespieltes Duo. In der jahrelangen Vertrautheit, in Liebe und Hass und den eingespielten Ritualen gleichen sie einem alten Ehepaar. Brauer zeigt den vernünftigen Wladimir, besonnen und realistisch. Rehm dagegen einen von Albträumen geplagten Künstlertypus mit wehender Silbermähne. Beide nützen so unaufdringlich wie präzise Situationskomik - und spielen doch, als ginge es um Kopf und Kragen. Trotz des Galgenhumors geht es ums nackte Überleben.

Auch das zweite Gespann, der Herr Pozzo und sein am Strick gezogener Knecht Lucky, spiegeln die Grausamkeit und Lächerlichkeit des Existenzkampfes. Uwe Friedrichsen trumpft gehässig auf als selbstgerechter Despot. Benjamin Utzerath gelingt mit der philosophischen Tirade des Sklaven ein mit Szenenapplaus bedachtes Glanzstück absurder Rhetorik: Lucky beschwört im Redeschwall die Sinnlosigkeit und das Ende der Menschheit.

Heinz hat zwar Stück und Inszenierung lokalisiert, jedoch Becketts Wunsch entsprochen, indem er es bei Andeutungen beließ. Dennoch erzeugte die Passage über die "Millionen Toten", das "Rauschen von Stimmen" atemlose Spannung im Theater.

In Regie, Raumkonzept und einem schauspielerisch ebenbürtigen Darsteller-Quartett ist dem Ernst-Deutsch-Theater in dieser Saison eine herausragende, sehenswerte Aufführung gelungen, die locker Ansprüchen am Schauspielhaus genügen würde.

Warten auf Godot: bis 28.5., Ernst-Deutsch-Theater, Karten unter T. 22 70 14 20 oder Internet: www.ernst-deutsch-theater.de