In den USA und England werden bei Castingshows echte Stars gefunden. Warum belebt Deutschland immer wieder den Hartz-IV-Faktor?

Hamburg. Was haben die USA und Großbritannien, was wir nicht haben? Vieles. Na, klar. Schaut man aber in die Welt der Castingshows, haben sie vor allem einen oder mehrere Stars. Richtige Superstars wie Kelly Clarkson und Leona Lewis. Es ist aber nicht nur die Anzahl international verkaufter Musikträger, die die beiden von unseren Medlocks, Godojs - und am Sonnabendabend beim Finale der Castingshow "Deutschland sucht den Superstar" (DSDS) von Menowin Fröhlich oder Mehrzad Marashi - unterscheidet. Es ist der Hartz-IV-Faktor. Und der ist irgendwie sehr deutsch.

Lewis und Clarkson haben ihn definitiv nicht. Und so lässt sich die These aufstellen: Deutschland wählt Hartz IV. Aber warum?

In anderen Ländern, in denen das DSDS-Format vom englischen "Pop Idol"-Erfinder Simon Fuller ebenso erfolgreich im Privatfernsehen läuft, mag der eine oder andere Finalist auch aus prekären Verhältnissen stammen. Aber anders als bei der deutschen Show ist es nicht die Hauptstory, die erzählt wird. In Trailern erzählen die Musiktalente von Schulden (Mark Medlock), von ihrem Leben als Arbeitsloser ohne Plan B (Thomas Godoj), von ihrer schlimmen Zeit im Gefängnis (Menowin Fröhlich) und vom Leben mit Hartz IV und vom Verlust des Bruders (Mehrzad Marashi). Alles wirklich schwere Schicksale. Wie am Freitag bekannt wurde, wird gegen Fröhlich jetzt auch noch wegen Kokainbesitzes ermittelt.

Und dann wird die "Story" des DSDS-Teilnehmers auch noch am nächsten Tag in jeder Boulevard-Zeitung des Landes noch einmal aufgewärmt. Der Medienwissenschaftler Jo Groebel beschreibt die Bestandteile der deutschen Superstars wie folgt: 50 Prozent ist Talent, 25 Prozent ist Marketing und noch mal 25 Prozent ist die Antenne, die Aktualität, das, womit der angehende Star den Nerv der Öffentlichkeit trifft. Und da schließt sich der Kreis: Denn die letzten 25 Prozent, die Hartz-IV-Sache, treffe den Nerv der deutschen Zuschauer. Hartz lasse sich wegen der Schicksalsdichte eben gut vermarkten. "Außerdem kann sich der Kernfan von DSDS mit einem Menowin oder einem Mehrzad gut identifizieren", meint Groebel. Und um noch einen draufzusetzen: Menowin und Mehrzad sind der Gegenentwurf zu Westerwelle. Die beiden Ex-Hartz-IV-Empfänger haben es geschafft, vom Sofa hochzukommen - und siehe da: Sie haben sogar Erfolg. Spinnt man das weiter, müssen wir Deutsche sogar Typen wie Menowin und Mehrzad wählen (zumindest die Zuschauer von RTL in Anlehnung an den Begriff des "Unterschichtenfernsehens"), weil wir dann auch irgendwann nicht mehr Hartz IV sind.

"Hartz IV", so wirkt es, ist also eine scheinbar diskriminierungsfreie Vokabel. In England und den USA gibt es so ein Wort wie Hartz IV nicht. Wer möchte schon in den USA zum "White Trash" oder zum"Low Income" gehören? Die Begriffe sind absolut negativ belegt.

Und wie positiv sich die beiden Vor-DSDS-Lebensversager auf die Quote auswirken, das konnte RTL dieser Tage froh vermelden. Diese siebte Staffel hat nach der ersten die meisten Zuschauer. 6,37 Millionen Menschen haben den Aufstieg der beiden Jungs im Schnitt verfolgt. Die erste Staffel hatte zwar 8,09 Millionen Zuschauer im Schnitt, aber es war eben auch die erste. Der Marktanteil beim jungen Publikum liegt derzeit bei 32,1 Prozent.

Und die lernen alle, dass man es auch mit Hartz IV, wenn auch kurzzeitig, in den Pop-Olymp schaffen kann. Trotzdem: Wann werden wir eine Kelly Clarkson haben? Vielleicht wird es ja die vom (Bildungs-)Publikum von ARD/ProSieben gewählte Lena Meyer-Landrut richten. Oder ist die am Ende zu brav?