Liao Yiwu darf nicht zur Buchmesse nach Frankfurt reisen: ein Manifest für die Freiheit und gegen Schreibverbote.

Frankfurt. Obwohl auf der Buchmesse in Frankfurt in diesem Jahr mein Werk in deutscher Fassung vorgestellt wird und obwohl ich eine Einladung vom Haus der Kulturen der Welt in Berlin bekommen habe, sagt der zuständige Polizist zu mir, Liao Yiwu, da kannst du nicht hingehen. Ich antworte, ich besitze einen Reisepass, warum darf ich nicht hingehen? Er daraufhin, du weißt es ganz genau. Ich widerspreche, nein, weiß ich eben nicht. Der Polizist grinst.

Am frühen Morgen des 4. Juni 1989 saß ich zu Hause, am Mittellauf des Jangtse-Flusses, und dichtete mit dem kanadischen Sinologen Michael Day im Stil des "Synchron-Writing". Danach las ich das Gedicht "Massaker" über das Ereignis auf dem Tiananmen-Platz vor, in dem ich prophezeite:

Die Chinesen haben ihr Zuhause verloren! Jeder weiß, sie sind heimatlos geworden! Zuhause ist ein zarter Wunsch, lass uns in diesem Wunsch sterben! Lass uns sterben in den imaginären Wünschen. Der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit! Verwandeln wir uns selbst in solche Wünsche, Stehen wir am Horizont und verführen mehr lebendige Menschen, Dafür zu sterben!

Dieses Gedicht wurde auf Tonband aufgenommen, vielfach kopiert und illegal verbreitet. Damals standen die Namen vieler berühmter Kollegen auf der schwarzen Liste. Man jagte sie im ganzen Land und viele mussten ins Ausland fliehen, unter ihnen Liu Binyan, Wang Ruowang, Zheng Yi, Bei Ming, Gao Ertai, Su Xiaokang, Kong Jiesheng, Kang Zhengguo, Bei Ling, Yang Lian, Bei Dao.

Auch ich plante zu fliehen. Liu Xia ( die Ehefrau von Liu Xiaobo, des inhaftierten Autors und Vorsitzenden des unabhängigen chinesischen PEN-Zentrums ; d. Red) reiste zu mir, gab mir eine Karte sowie Anweisungen, wie man den taiwanischen Liedermacher Hou Dejian kontaktieren könnte. In einem Brief, den die Polizei damals abfing, schrieb ich: "Mit dem Rucksack stand ich auf dem Schiffsbug und betrachtete die Kieselsteine an beiden Ufern und dachte: Es gibt für mich in diesem verdammten Vaterland schon keinen festen Boden mehr unter den Füßen."

Danach wurde ich festgenommen und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Insgesamt waren mehr als 20 Untergrund-Dichter in diesen Fall verwickelt und wanderten in den Knast. Er war somit einer der größten "konterrevolutionären Fälle" in der Folge des 4. Juni 1989. Noch immer, nach so vielen Jahren, zittere ich am ganzen Körper, wenn ich an die Szene meiner Festnahme denken muss.

Ich umklammerte eine Zugfahrkarte in einen südlichen Grenzort. In meiner Tasche hatte ich bloß ein paar Gedichtbände, einige Romane und Essays und einen Stapel mit Korrespondenz. Ich war sehr bewegt. Dann wurde mein Schicksal durch die Festnahme so plötzlich unterbrochen, als sei es von dem ratternden Schnellzug überfahren worden.

Vor Gericht zeigte man alle meine Gedichte, Romane, Prosatexte, Briefe und Filme als Beweise für mein "Verbrechen". Zweimal verteidigte ich mich, indem ich betonte, dass ich nichts von Politik verstehe. Meine Worte riefen nur lautes Gelächter hervor.

Ein anderes Leben begann.

In vier verschiedenen Gefängnissen lernte ich mehr als tausend Kriminelle kennen. Ich sah, wie mehr als zwanzig zum Tode Verurteilte zur Hinrichtungsstätte geführt wurden. Ich befreundete mich mit Mördern, Brandstiftern, Menschenhändlern, Vergewaltigern, Dieben und Ausbrechern. Ich bekam nicht genug von ihren Geschichten. Nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis wurde ich Straßenkünstler. Ich spielte auf einer billigen Dongxiao-Bambusflöte und sang triviale Volkslieder in den Bars der Triaden.

Allmählich vergaß ich, dass ich ein Dichter und "politischer Straftäter" war. Ich habe zu viele "Geschichten der anderen" gehört. Sie handeln von den Tränen und dem Lachen der Chinesen, die sich verwandelt haben, handeln vom Weiterleben nach Demütigungen, das manchmal nur durch Apathie zu ertragen ist. Die Überlebenskunst der Chinesen ist beeindruckend. Sie sind unverschämt, resigniert, niederträchtig und zäh. Auf diese Art und Weise ist mein Buch "Ein Interview mit der Unterschicht Chinas" entstanden (auf Deutsch als "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" im S. Fischer Verlag erschienen).

Die Sehnsucht nach der Freiheit wird von Tag zu Tag stärker. Das gilt insbesondere für einen ehemaligen Sträfling wie mich, der seit Jahren unter strenger polizeilicher Kontrolle lebt. In den Jahren 2000 und 2001 habe ich an meinem Heimatort zweimal einen Reisepass beantragt. Einmal wurde ich nach Tokio, einmal nach Berlin zum Filmfest eingeladen. Aber egal wie sehr ich mich auch bemühte, die Polizei verweigerte die Ausstellung eines Reisepasses.

2002, 2003, 2004 versuchte ich es wieder. 2005 führte das Chinesische Ministerium für Öffentliche Sicherheit neue Richtlinien ein: Ein Bürger brauchte nun keine Einladung mehr, um einen Pass zu beantragen. Ich verhandelte wieder mit derselben Behörde. Mir wurde gesagt, dass ich ein "Sonderfall" sei und nach wie vor keinen Pass bekomme. 2006 und 2007 beantragte ich einen Pass und führte Prozesse gegen die polizeiliche Behörde. Erfolglos.

Nach dem Erdbeben vom 12. Mai 2008 herrschte bei den örtlichen Verwaltungsbehörden in Sichuan großes Chaos. Ich nutzte diese Gelegenheit, meldete mich kurzerhand polizeilich um und beantragte an meinem neuen Wohnort erneut einen Pass. Diesmal hatte ich Glück. Doch einen Monat später lud mich die Polizei zum Teetrinken ein und wies mich nebenbei darauf hin, dass ich ohne Sondergenehmigung auch mit einem Pass in der Hand nicht ins Ausland reisen dürfe.

Ende August 2009 lud mich das Haus der Kulturen der Welt nach Berlin ein. Auch zur Frankfurter Buchmesse wollte ich fahren. Als in Deutschland bekannt wurde, dass ich nicht ausreisen durfte, bekam ich viele Anrufe. Die Frankfurter Buchmesse und das Haus der Kulturen der Welt sagten mir, sie hätten sich an die "General Administration for Press and Publication", an die Deutsche Botschaft in Peking und das Deutsche Konsulat in Chengdu gewandt. Doch die örtliche Polizei lenkte nicht ein.

Freiheit! Freiheit! Wie viele Leute gehen für dich durchs Feuer? Während nun die Buchmesse beginnt, während sich der Termin für meinen Vortrag nähert, sitze ich hier Tausende Meilen von Frankfurt entfernt dumm am Schreibtisch herum. Der Himmel über Chengdu ist bedeckt, und es bläst ein kalter Wind. Ich ziehe aus Gewohnheit die Schulterblätter zusammen und komme mir vor wie eine graue Ratte.

Stimmt. Ich bin eine chinesische Ratte. Ich verstehe mich bestens darauf, Löcher zu bohren. Wenn die Polizisten wie die Katzen neben allen Ein- und Ausgängen stehen, grabe ich immer tiefer. Aus lauter Angst würde ich mich am liebsten bis auf die andere Seite des Erdballs durchgraben. Es gab eine Zeit, vor 1989 war das, als ich noch als Untergrund-Dichter mit einem Exemplar von "Unterwegs" in der Tasche herumvagabundierte. Da konnte ich genau wie die meisten nun zur Buchmesse gereisten "offiziellen Schriftsteller" das Leben in feuchten Löchern unter der Erde nicht ertragen.

Ganz China ist heute von einem komplexen Netzwerk von Rattenlöchern überzogen. Wer Tag und Nacht durch unsere Städte wandert, der begegnet allen möglichen Rattentypen. Rikschakulis, Sträflingen, Bettlern und Gemüseverkäufern. Gehören sie nicht alle zur Spezies der Ratte? Beamte, Kaufleute, Trinker - sind das nicht alles Ratten? Schriftsteller, Dichter, Professoren, Gelehrte wie wir, sind wir etwa keine Ratten? Alle kalkulieren ganz vorsichtig, was sie sagen oder tun, alle schmeicheln den Machthabern, weil diese Geld, Macht und Gefängnisgitter haben. Wenn du gehorsam bist, bekommst du Macht und Geld und kannst als Vertreter des chinesischen Volkes nach Frankfurt reisen. Du kannst dich dort gemeinsam mit den anderen vorstellen lassen, dich mit anderen Menschen austauschen und an den Preisverleihungen irgendwelcher Literaturforen teilnehmen. Bist du aber nicht brav, dann sitzt du hinter Gittern wie Liu Xiaobo ( wurde 2008 wegen des Entwurfs der "Charta 08" festgenommen, in der die Demokratisierung Chinas gefordert wird ), Tan Zuoren ( Umweltschützer, der in Haft sitzt, weil er nach dem Erdbeben in Sichuan Nachforschungen anstellte ), Li Hong ( wegen Veröffentlichungen im Internet zu acht Jahren Gefängnis verurteilter Dichter ) oder Shi Tao ( Dichter, der nach Veröffentlichungen im Internet von Yahoo an chinesische Behörden verraten und zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde ).

Meine Strafe ist so gesehen nicht besonders streng. Mir ist lediglich befohlen worden, brav in meinem Rattenloch sitzen zu bleiben und meine abstehenden Ohren nicht öffentlich zu zeigen. Ich soll nur nicht unrealistischerweise davon träumen, oben auf der Erde herumzuspazieren. Auf einmal überkommt mich das Gefühl, als dürfte ich bis ans Ende meines Lebens dieses Land nicht mehr verlassen. Vielleicht will mir Gott auf dem Umweg über die Polizisten ja nur das Schicksal ersparen, wie ein entfesselter Drache überall in der Welt herumzuirren. Gott warnt mich vor der Finsternis, er ruft: "Schau mal her, es gibt schon so viele Exilautoren, ist nicht jeder von denen viel besser als du?"

Aber diese Exilschriftsteller haben das Milieu ihrer Muttersprache verloren. Die vielen Rattentypen und die Temperatur ihrer Rattenherzen sind ihnen fremd geworden. Daher können sie nur noch über Erinnerungen schreiben. Macht es angesichts dieser Erinnerungen, die so kalt sind wie Asche, überhaupt noch einen Unterschied, ob ein Ereignis vor zwanzig Jahren geschah oder ob es erst zwanzig Jahre später passieren wird?

Ich könnte mir durchaus vorstellen, auch nur noch über Erinnerungen zu schreiben. Oder meinetwegen überhaupt nicht mehr zu schreiben. Ich könnte mich auch eine Weile lang einfach vergnügen, einfach nichts tun. Und wenn das nicht mehr geht, könnte ich als Straßenkünstler meinen Lebensunterhalt verdienen, ich könnte Straßen kehren, Teller spülen. Es ist die Kommunistische Partei Chinas, die darauf besteht, dass ich hier bleibe und täglich etwas Neues schreibe. Ohne es wirklich zu merken, bin ich ein Augenzeuge der Wirklichkeit geworden. Ich habe in meinem Rattenloch Wurzeln geschlagen. Ich komme da nicht mehr heraus. Das plagt mich.

Gott fragt mich, liest du alte Zeitungen? Vor ein paar Jahren brach der Damm vom Tai-See zusammen. Im Nu tauchten mehr als eine Milliarde Ratten auf. Wie in Wellen überfluteten sie die umliegenden Dörfer und Städte. Sie fraßen alles auf, was ihnen in den Weg kam. Überall sah es anschließend aus wie ein Sieb. Angeblich soll der Kampf zwischen den Menschen und den Ratten einen halben Monat lang gedauert haben. Erst dann haben sich die Ratten wieder zurückgezogen. Das heutige China gleicht einem riesengroßen Rattenloch. Falls das eines Tages aufbräche, würden die Wellen die gesamte Welt überfluten. Bis dahin, willst du da lieber über den großen Ozean hinweg ins Ausland gehen, oder lieber am selben Ort bleiben?

Dann wäre ich doch schon tot und könnte mich gar nicht mehr bewegen, selbst wenn ich es wollte, antworte ich. Also ade, du fernes Frankfurt.

Dieser Artikel ist am 14. Oktober in der "Süddeutschen Zeitung" erschienen.