Warum spricht uns ein bestimmtes Bild an, während uns ein anderes kaltlässt? Wodurch wird eine Fotografie zum symbolischen Bild, das uns das Wesentliche eines Ereignisses erkennen lässt? F.C. Gundlach erklärt, worauf es ankommt, und weist einen Weg durch die Bilderflut der vergangenen zwölf Monate.

Hamburg. "Ein Bild ist viel mehr als die Illustration des Textes. Aber das wissen Sie ja selbst", sagt F.C. Gundlach, als er kurz vor Weihnachten im Newsroom des Hamburger Abendblatts vor der Magnetwand eintrifft, an der Fotoredakteurin Monika Drews eine Auswahl der wichtigsten, interessantesten und bewegendsten Fotos des Jahres angebracht hat. Der stellvertretende Abendblatt-Chefredakteur Matthias Iken begrüßt den Fotografen, Fotosammler und Gründungsdirektor des Hauses der Photographie vor der Magnetwand, an der jeden Tag die aktuellen Fotos betrachtet, begutachtet und ausgewählt werden. Nach der Hauptkonferenz, die um elf Uhr beginnt und etwa eine Stunde dauert, stehen hier viele Redakteure und diskutieren über die Bilder. Dabei fallen immer wieder Fotos auf, die so stark und so aussagekräftig sind, dass sie für sich stehen. Und das können sie dann auch, oft werden sie als Solo-Bild mit nur etwa 25 Zeilen Text gedruckt.

Diesmal ist es nicht die Ausbeute eines Tages, diesmal sind es 63 Bilder, die wir alle schon einmal betrachtet haben und von denen die meisten im Lauf der letzten zwölf Monate im Abendblatt abgedruckt worden sind. Und diesmal wählt auch nicht die Redaktion aus, sondern F.C. Gundlach allein. Wie schon im vergangenen Jahr kürt der Fotograf im Abendblatt seine Fotos des Jahres. Es sind Bilder, die allein seinen Kriterien entsprechen müssen. Bilder, die er aus manchmal sehr unterschiedlichen Gründen für so wichtig hält, dass man sich ihrer erinnern sollte. Es sind jene Bilder, die aus der Flut der täglich überall auf der Welt entstandenen Fotos im kollektiven Gedächtnis haften geblieben sind, weil sie Ereignisse, Schicksale oder auch Entwicklungen manchmal besser zum Ausdruck bringen, als es Wörter vermögen. Hoch konzentriert und zunächst schweigend betrachtet der 82-Jährige Fotografien von den politischen Ereignissen des Jahres, von Kriegen, Katastrophen, aber auch von kuriosen oder anrührenden Situationen. Für zwölf Motive kann er sich entscheiden, eine schwere Wahl bei einer so hohen Anzahl von herausragenden Bildern, die die Fotoredaktion schon in den Tagen zuvor gesichtet, zusammengestellt und in großen Formaten ausgedruckt hat.

Selbstverständlich hat Gundlach ein sicheres Gespür für Qualität, schwächere Motive sortiert er schnell aus, aber manchmal schwankt er, wägt Stärken und Schwächen ab, entscheidet sich, um sein Votum vielleicht nach zehn Minuten doch zu widerrufen. Da gibt es zum Beispiel zwei Bilder, die den Freitod des Nationaltorwarts Robert Enke illustrieren: Einmal ist die Witwe zu sehen, wie sie auf der Pressekonferenz von Hannover 96 in berührender Offenheit über die Lebensängste ihres Mannes spricht. Zum anderen ein Blick in das Stadion, in dem die Mannschaft, Sportfunktionäre, Politiker und die Familie und die Freunde des Verstorbenen mit seinen Fans in der Trauer vereint sind. Immer wieder betrachtet Gundlach beide Bilder, legt sie nebeneinander, tritt drei Schritte zurück. Dann nimmt er das Stadion-Bild in die Hand. "Die Trauer um einen Verstorbenen, die in einem Fußballstadion so viele Menschen zusammenführt; die Trauer als Massenphänomen an dem Ort, an dem sonst Massenunterhaltung geboten wird, das ist ein ganz starkes und außergewöhnliches Motiv", sagt der Fotograf, legt das Bild aber zur Seite und entscheidet sich dann doch für das Foto, das Teresa Enke auf ihrer Pressekonferenz zeigt. "Es ist trotzdem das stärkere Motiv."

Nach einer halben Stunde sind noch immer 30 Bilder übrig geblieben. Dazu zählen Motive, deren Komposition überrascht, wie zum Beispiel das Foto eines Radrennens in Slowenien, das sich durch die extreme Schattenwirkung erst beim intensiven Betrachten erschließt. Zweifellos ein gutes, ein originelles Motiv, aber ist es ein Bild des Jahres? Gundlach schüttelt den Kopf und legt es beiseite. Oder ein Foto, das den russischen Premier Wladimir Putin mit nacktem Oberkörper in einer einsamen Gebirgslandschaft hoch zu Ross zeigt. Eine kalkulierte Selbstinszenierung, an der sich manches ablesen lässt. Für Gundlach ist es aber doch nur eine Pose, die es in anderer Weise schon mehrfach gab und die sich abgenutzt hat.

Schwierig wird es bei Fotos von Barack Obama, hier gibt es zahlreiche starke Motive. "Kein Wunder, schließlich ist er der wichtigste Akteur der aktuellen Weltpolitik und außerdem eine Persönlichkeit, mit der viele Menschen ihre Hoffnungen verknüpfen", sagt der Fotograf und betrachtet ein Bild, das den amerikanischen Präsidenten zeigt, wie er dem Indianer-Chief Joe Medicine Crow, der eine gewaltige Federkrone trägt, ein wenig umständlich die Freiheitsmedaille der USA umhängt. "Der Angehörige einer Minderheit ehrt den Repräsentanten einer anderen Minderheit, eine Geste, die viel zu erkennen gibt", sagt Gundlach, der dieses Bild immer wieder in die engere Wahl zieht, um am Ende dann doch einem anderen Obama-Motiv den Vorzug zu geben.

Nach nur einer Stunde sind die zwölf Motive diesmal ausgewählt. Im letzten Jahr hatte es noch mehr als doppelt so lange gedauert. Der Fotograf ist etwas erschöpft, lässt sich eine Tasse Tee bringen und betrachtet die Auswahl in Ruhe, um dann noch einmal jedes einzelne Motiv eingehend zu betrachten und für die Abendblatt-Leser zu kommentieren "Ich glaube, so kann man es machen", sagt er schließlich.