Die Popwelt der 90er wurde von Grunge, Hip-Hop und Techno dominiert. Was brachten die 2000er? Ein Streitgespräch der Abendblatt-Autoren Thomas Andre und Tino Lange.

Thomas Andre:

Tino, die Nuller-Jahre lassen sich auf einen musikalischen Nenner bringen: The Strokes. Die traten 2001 die Lawine des Retro-Rocks, sprich der "The"-Bands von The Hives bis The Kooks los. Dafür ist Techno tot und die Love Parade jetzt in Duisburg! Passierte sonst noch was?

Tino Lange:

Natürlich! Es gab doch "Popstars", "Deutschland sucht den Superstar" und weitere TV-Castingshows. Das war doch mal was Neues mit Bands wie No Angels, Nu Pagadi, Bro'Sis, Room2012 oder Monrose. Ob man sich 2019 noch an die erinnern wird? Die sind ja schon zwei Stunden nach Staffel-Finale vergessen ...

Andre:

Ebenso vergessen ist das klassische Musikfernsehen, MTV und VIVA mutierten zu Lifestyle-Sendern als Unterbrechung für Klingelton-Dauerwerbung. Pop im TV war Casting, richtig, aber in Erinnerung bleiben wird nur Dieter Bohlen, der Sprücheklopfer.

Lange:

Vielleicht wird die "neue Neue Deutsche Welle" in Erinnerung bleiben. Wir sind Revolverhelden, Sportfreunde Madsen, Julimond, Söhne Seeeds, Jan Fox und Miastolz wurden im Radio rauf und runter gespielt. Nur Heinz-Rudolf Kunze, der in den 90ern die Deutschquote für Hörfunk forderte, den spielten sie auch in den Nuller-Jahren nicht. Tokio Hotel übrigens auch nicht. Radio war vielleicht doch besser als sein Ruf.

Andre:

Das war jetzt gemein! Aber es war schon toll zu sehen, wie bei der "MTV Campus Invasion" ein Meer aus Menschen wogte. Nein, nicht zu Franz Ferdinand. Zu Wir sind Helden. Also: Deutschrock ging es gut in den Nullern. Kettcar schaffte es sogar in die Tagesthemen!

Lange:

Hamburger Hip-Hop scheint die 90er nicht überstanden zu haben, sondern mutierte stilistisch: Fettes Brot macht Pop, Jan Delay Funk, Deichkind Elektro. Hip-Hop, das war "Aggro Berlin" mit Bushido, Fler und den anderen schweren Jungs. Kein toller Impuls.

Andre:

Was aber immer noch funktioniert, sind blonde Hupfdohlen, die Oma Madonna und Tante Kylie folgten: Britney Spears, Christina Aguilera, Shakira, Pink oder zuletzt Lady Gaga - immer die gleiche Verpackung desselben Produkts.

Lange:

Ein Produkt, das trotzdem immer weniger Menschen haben wollen. Amy Winehouse - die war klasse! - hatte bestimmt mehr Schlagzeilen als CD-Verkäufe.

Andre:

Stimmt, die Raubkopiererei hat alles verändert, hat angeblich 2009 sogar die Popkomm verhindert. Es ist das alte Klagelied. Bands müssen ihre Fans anpumpen, um Platten aufzunehmen, die ihre Fans zwar vergöttern, aber nicht kaufen. Klubs werden an 30 Abenden im Monat bespielt, weil nur noch Konzerte Geld reinbringen. Wohin geht der Weg?

Lange:

Weiter. The Police, Tina Turner, Genesis, ja sogar Led Zeppelin traten wieder zusammen auf, weil nur noch Konzerte den mondänen Lebensstandard sichern. Und dann stehen wie bei den Eagles alte Herren auf der Bühne der Color-Line-Arena, haben bis auf Viagra keine Produktionskosten und verlangen bis zu 150 Euro pro Karte. Aber immerhin gibt es für dieses Geld mittlerweile überall Festivals mit bis zu 80 Bands. Auf dem Nürburgring, auf dem Brocken, im Tagebau, auf dem Deich.

Andre:

Sogar in Wilhelmsburg! All-inclusive-Angebote von Bands und Bier sind der definitive Trend der Nuller-Jahre gewesen.

Lange:

Und ich denke, der schöne Trend der Zehner werden Festivals für Erwachsene wie "Rolling Stone Weekender" oder "Baltic Soul Weekender". Rock in der Feriensiedlung, ohne Zelte, ohne Schlamm, mit Kleinkind im Ballbecken, aber ohne im Dosenbier-Müll darbende Teenies.

Andre:

Und alle warten auf den großen Knall, auf die pop-ästhetische Neuerung, die nicht nur aus Zitaten besteht. Wahrscheinlich wird es irgendwann bewusstseinserweiternde Mittel auf Naturbasis geben, die Musik zu einem völlig neuen Sinnerlebnis machen. Das ist Musik 2017. Die kann vom Arzt verschrieben werden.

Lange:

Nein, ich glaube, der Pop wird auch weiterhin großartig, aber auch hilflos auf vergangenes zurückgreifen. Ich rechne mit einem Comeback von 40er-Feindsender-Swing, 90er-Eurodance sowie der Vermischung von javaianischer Gamelan-Musik und Lounge-Metal. Die Ärzte bleiben die beste Band der Welt, ABBA wird wiedervereint und ein Historiker findet heraus, dass die Beatles von 1957 bis 1959 regelmäßig in Berlin (West) aufgetreten sind. An welche Bands der Nuller wird man sich noch 2019 erinnern und an welche nicht?

Andre:

Erinnern wird man sich an Phoenix, Daft Punk, Arctic Monkeys, Franz Ferdinand und Interpol. Vergessen sein werden Empire Of The Sun (die gar nicht so verkehrt sind), Wolfmother, The Kooks (obwohl ich auch die mag), und Gott sei Dank auch Ich + Ich.

Lange:

Mit Ich + Ich müssen wir wohl vorerst auch in den Zehnern rechnen. Erinnern wird man sich an Muse, Mando Diao, The Strokes, White Stripes (zumindest in Fußballstadien) und Kings Of Leon. Vergessen sein werden die völlig überschätzten Libertines, Arctic Monkeys (zwei gute Songs in drei Alben, keine respektable Bilanz), die Kelly Family der Nuller, Tokio Hotel und sämtliche nationalen und internationalen Casting-Sternchen inklusive dieser schaurigen Wuchtbrumme aus England. Wie hieß sie noch? Paul Potts?

Andre:

Susan Boyle! Die White Stripes waren unnötig, auch in Fußballstadien. Und die Arctic Monkeys hatten 30 Hits auf drei Scheiben. Wir müssen unter vier Augen reden, bei dir sind einige Koordinaten verrückt!

Lange:

Wenn du für mich zu den kommenden Konzerten von Howard Carpendale, Florian Silbereisen und Tokio Hotel gehst, dann können wir anfangen zu reden.

Andre:

Zu allen dreien gehe ich ohne mit der Wimper zu zucken. Tokio Hotel ist eine gute Band.

Lange:

Dann wird Tokio Hotel im Februar dein Einstieg ins nächste Pop-Jahrzehnt. Viel Spaß! Mir haben zwei Abende in der Color-Line-Arena gereicht, ich bin immer noch taub von dem Gekreische. Ach ja, das Album des Jahrzehnts haben die Wüstenrocker von Queens Of The Stone Age aufgenommen: "Songs For The Deaf".

Andre:

Die kennt doch keiner! Ich halte mit Super Furry Animals "Rings Around The World" dagegen.

Lange:

Nie gehört, gib mal her ...