Der Fernsehreporter begegnete in seiner “zweiten Heimat“ stolzen Autofahrern, rechten Extremisten und Tiefgläubigen.

Reportage: Gerd Ruge unterwegs - 100 Kilometer um Moskau. 21.45 Uhr ARD

"Können Sie sich ein Leben ohne Auto vorstellen?", fragt Gerd Ruge aus dem VW Bulli die Frau im Nebenfahrzeug. "Nein", antwortet sie kopfschüttelnd und guckt skeptisch, obwohl er verständlich Russisch spricht. Der Fernsehreporter, jahrelang Korrespondent für die ARD in der Sowjetunion, steckt in der Blechlawine auf einer Ausfallstraße fest und interviewt Leute aus dem "beweglichen Mittelstand", wie er sagt, für seine Reportage "Gerd Ruge unterwegs: 100 Kilometer um Moskau". 20 Jahre nach dem Fall des "Eisernen Vorhangs" besuchte Ruge seine "zweite Heimat" und erlebt mit dem Zuschauer der Sendung einige Überraschungen aus dem neuen Leben in Russland. Vieles hat sich rapide verändert. Zum Beispiel die Anzahl der Autos. Waren es damals 300 000, sind es heute 3,5 Millionen. Einiges ist jedoch gleich geblieben, wie er beim Besuch eines Gewerkschaftsvorstands feststellt. "Dasselbe Büro, dieselben Möbel, nur das Bild des Präsidenten hat sich verändert."

Die Wirtschaftskrise macht auch den Russen schwer zu schaffen. In der größten Eisenbahnwaggonfabrik bei Moskau wird nur drei Tage gearbeitet.

Es gibt Entlassungen in den Fabriken, gegen die junge Gewerkschafter vorgehen und dabei riskieren, ihren Job zu verlieren. Sie wollen sich für die Rechte der Arbeiter einsetzen. Denn eigentlich gibt es keine echten Gewerkschaften in Russland, wie Ruge fachmännisch kommentiert. Der 81-Jährige bringt die Leute mit seiner direkten Art zum Reden, obwohl sie nach wie vor vorsichtig reagieren und etwas zu oft betonen: "Das Leben ist wunderbar, es geht uns gut, wir arbeiten und überstehen die Krise."

Warum aber trainieren in einem Wald bei Moskau junge Männer mit echter Munition und Maschinengewehren den Bürgerkrieg? "Das ist gesund, härtet den Kampfgeist", erklärt einer von ihnen dem erstaunten Journalisten. "Wir bereiten uns auf Ereignisse vor, die auf uns zukommen. Die Lage im Land ist nicht stabil, man wird uns noch brauchen." Die rechtsextremen Superpatrioten verteilen allerdings auch noch Flugblätter gegen Immigranten und sind nationalistisch eingestellt, obwohl einer von ihnen beteuert, dass sie nichts gegen Minoritäten hätten.

Andere finden im orthodoxen Glauben, in der Rückbesinnung auf alte patriarchalische Werte Halt in unsicheren Zeiten. Das gilt für die Familie des Geistlichen, die sich um Waisen kümmert, wie für den jüngsten Milliardär Russlands, German Sterligoff. Vor 20 Jahren hatte Ruge ihn getroffen - und erkannte ihn jetzt kaum wieder. Sterligoff trägt zur Brille einen Rauschebart, handelt jetzt mit Goldmünzen und nicht mehr mit Anleihen, hat für seine Familie ein altrussisches Blockhaus außerhalb Moskaus erbaut und pflanzt seine eigenes Bio-Gemüse. Der Spekulant hat eine neue Art zu leben entdeckt, fand vom Turbokapitalismus zur altrussischen Askese und zum orthodoxen Glauben. Er lebt nach der traditionellen Patriarchenregel "Der Frau der Herd, dem Mann das Pferd" und wettert gegen die Chemieindustrie und die Vergiftung von Luft und Wasser.

Die Momentaufnahmen und Kurzinterviews mit Kamera und Mikrofon fügt Gerd Ruge zu einem lebendigen Kaleidoskop widersprüchlicher Bilder und Eindrücke aus dem heutigen Russland zusammen. Es reflektiert die Gegensätze zwischen Stadt- und Landleben, den Pluralismus in der neuen "offenen" Gesellschaft, aber auch die Orientierungslosigkeit und Unsicherheit der Menschen, die sich wünschen, zu Europa zu gehören.