Sprachliche Verlotterung - Mangelnde Einordnung - Fehlender Sinn für Inhalte: Die Kritik des Ex-“Tagesthemen“-Moderators findet Zustimmung - nur nicht bei den betroffenen Sendern.

Hamburg. Das Thema treibt ihn schon länger um: Wer mit Ulrich Wickert vor knapp zwei Jahren zum 30. Jahrestag der "Tagesthemen" über die Sendung sprach, die er 15 Jahre moderierte, merkte sehr schnell, dass er sie - vorsichtig ausgedrückt - nicht mehr sonderlich schätzt. Zitieren lassen wollte er sich freilich nicht. Er fand, dass sich das für einen Ehemaligen nicht schickt.

Nun hat es sich Wickert anders überlegt. In einem langen Zweispalter in der "FAZ" unterzieht er nicht nur die "Tagesthemen", sondern gleich alle Nachrichtensendungen von ARD und ZDF einer Fundamentalkritik. Nicht nur dass er bei ihnen "sprachliche Verlotterung" diagnostiziert: Den Sendungen fehle der "Sinn für die Verbreitung wichtiger aktueller politischer Inhalte" und deren "Einordnung". Kurzum: "Den Machern scheint das Bewusstsein für ihren öffentlich-rechtlichen Auftrag, für eine Grundversorgung politischer Information zu sorgen, abhandengekommen zu sein."

Seine Thesen erläutert Wickert anhand mehrerer Beispiele: Er moniert, dass weder ARD noch ZDF das neue Bundeskabinett vollständig vorgestellt hätten, hält die ständigen Berichte an prominenter Stelle über Attentate im Irak für "völlig falsch verstandene Chronistenpflicht" und kritisiert die Berichterstattung von ARD und ZDF zu den Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag des Mauerfalls in Bausch und Bogen. Wickert versteht nicht, warum die ARD sich mitten in der Rede von Hillary Clinton aus der Übertragung verabschiedete und das ZDF Thomas Gottschalk moderieren ließ.

Die Zustimmung zu seinen Thesen in Branchenkreisen ist groß. Ein leitender Redakteur des NDR teilt Wickerts Kritik und fragt sich nur, warum er mit ihr "erst jetzt als Pensionär" an die Öffentlichkeit geht. Der Medienwissenschaftler Lutz Hachmeister findet, dass Wickert "im Grundsatz" recht hat: "Er trifft viele Punkte." Und Klaus Bresser, lange Jahre ZDF-Chefredakteur und Moderator des "heute-journals", der sich die Feierlichkeiten zum Jahrestag des Mauerfalls im angeblich so seichten US-Fernsehen ansah, sagt, dass dort "niemand auf die Idee" gekommen sei, "für solch ein Ereignis einen Unterhaltungsmoderator einzusetzen".

Das ZDF weist Wickerts Einlassungen als "unzutreffend" zurück, und auch bei der ARD ist man wenig erbaut. Wickerts Sprachkritik mag ARD-Chefredakteur Thomas Baumann nicht gelten lassen: "Die ,Tagesschau' ist auch deshalb die erfolgreichste deutsche Nachrichtensendung, weil sie eine gute und verständliche Sprache pflegt", sagt er. Die meisten Minister des neuen Bundeskabinetts habe die ARD exklusiv präsentiert und die Namen der Übrigen unmittelbar nach Bekanntgabe weitergereicht. Und aus der Rede von Hillary Clinton habe sich das Erste verabschieden müssen, weil noch um 19.40 Uhr die Veranstalter der Mauerfall-Feierlichkeiten zugesichert hätten, dass die Reden um 20 Uhr beendet sein würden. Weil dies dann doch nicht der Fall war, habe man zur "Tagesschau" schalten müssen. Sie kurzfristig zu verschieben, sei nicht möglich gewesen, weil die "Tagesschau" auch in den Dritten läuft.

Das mag alles richtig sein. Und doch braucht man sich nur die 20-Uhr-"Tagesschau" vom Mittwoch anzuschauen, um zu verstehen, was Wickert meint: Die Sendung machte mit der Kabinettsklausur in Meseberg auf. Zum Abschluss ihres länglichen Berichts sagte ARD-Reporterin Andrea Zückert, dass dort nur beschlossen worden sei, was ohnehin im Koalitionsvertrag stehe. Das Ganze sei "ein Ereignis für die Medien" gewesen. Warum aber macht die "Tagesschau" diese Inszenierung mit?

Vielleicht hat ja Medienwissenschaftler Hachmeister recht: "Das Problem", sagt er, "ist das mangelnde Selbstbewusstsein der Publizisten, die sich nur noch als Vermittler sehen, aber nicht mehr wissen, was sie vermitteln wollen."

Ulrich Wickert: Der TV-Journalist Ulrich Wickert war von 1991 bis 2006 Moderator der "Tagesthemen". Der ehemalige ARD-Frankreich-Korrespondent ist Ritter der französischen Ehrenlegion und wurde unter anderem mit der Goldenen Kamera ausgezeichnet. Heute unterrichtet der 66-Jährige als Honorarprofessor an der Hochschule Magdeburg-Stendal Journalistik, moderiert auf NDR-Kultur "Wickerts Bücher" und schreibt Krimis.