Seit 1984 zogen Millionen Deutsche in eine Welt der Krieger, Magier, Elfen und Orks - anfangs bewaffnet mit Stift und Papier, jetzt mit Maus und Tastatur.

Hamburg. "Eigentlich sollte doch in dieser Truhe eine Schatzkarte sein." Ratlos stehen der mürrische Zwerg Momotos, der edle Krieger Rondrian von Berg, der zwielichte Söldner Thezmar Karenkis und der mächtige Magier Hesindior Pardoral in einem düsteren Turm mitten im Reich der schrecklichen Orks. Von der Karte zum legendären "Orkenhort" gibt es keine Spur. Momotos wird wütend: "Mir reicht's, ich mache die Truhe zu Kleinholz und zünde die Reste an." Plötzlich dröhnt eine Stimme aus dem Off: "Momotos, als du in der Asche stocherst, entdeckst du unleserliche Reste der Schatzkarte, die auf der Unterseite der Truhe angebracht war." Großes Gezeter, wütende Flüche werden ausgestoßen, allerdings nicht von Momotos, Rondrian, Thezmar und Hesindior, sondern von vier angehenden Abiturienten, die Mitte der 90er-Jahre auf einem Dachboden in Bargteheide hocken, umgeben von leeren Chipstüten, Schokoladenpackungen und Bierflaschen. Eine typische Spielrunde des Fantasy-Rollenspiels "Das Schwarze Auge", welches dieses Jahr seinen 25. Geburtstag feiert.

1974 veröffentlichten die Amerikaner Gary Gygax und Dave Arneson - inspiriert von Romanen wie "Der Herr der Ringe" - das Spielsystem "Dungeons & Dragons", welches das erste kommerziell erfolgreiche, millionenfach verkaufte Spiel seiner Art war und einen komplett neuen Kulturbegriff - "Stift- und Papier-Rollenspiel" ("Pen & Paper") - prägte. Die Spieler denken sich in ihrer Fantasie eine Figur aus, mit der sie im Kopf und ohne Spielbrett eine fremde Welt auf Suche nach Abenteuern durchstreifen.

Der Spielleiter einer Runde kennt und moderiert (die Stimme aus dem Off) die Rahmenhandlung und Ereignisse des Abenteuers. Er spielt Feinde, Gegner und Freunde der Spielrunde. Grundlage der Welt sind Regelhefte mit ungezählten Tabellen und Beschreibungen und das Prinzip Zufall. Kämpfe zum Beispiel werden mit bis zu 20-seitigen Würfeln ausgewürfelt. Auch in Deutschland wurden "Pen & Paper"-Rollenspiele schnell beliebt als Möglichkeit, unglaubliche Heldentaten abseits des irdischen Alltags zu erleben. Nur vier Jahre dauerte es, bis Jürgen Franke 1978 im Selbstverlag "Empires Of Magira" (später "Midgard") herausbrachte.

Durchschlagenden Erfolg hatte aber erst 1984 "Das Schwarze Auge" ("DSA"), von Ulrich Kiesow, Werner Fuchs und Hans Joachim Alpers für Schmidt Spiele entwickelt. In wenigen Stunden kritzelten sie die Landkarte des fiktiven Kontinents "Aventurien" auf Papier und ließen eine Fantasiewelt entstehen, die nach ziemlich bekannten Gesetzmäßigkeiten funktioniert: Im Norden leben Thorwaler (Wikinger), Nivesen (Inuit) und Bornländer (Russen), im Süden Waldmenschen (Indios), Novadis (Beduinen) und Mhanadistani (Perser), dazwischen bewegt man sich in Kulturkreisen zwischen europäischem Hochmittelalter und Renaissance. Dazu kommen Orks, Goblins, Elfen, Zwerge, Drachen, Trolle, Untote, Dämonen und andere Mit-Nichtmenschen.

Seit den ersten 100 000 Basisboxen, die 1984 verkauft wurden, gingen fünf Millionen Spielboxen und Abenteuerhefte über die Ladentische. Die Spielwelt entwickelte sich durch immer neue Regeleditionen und Hilfsliteratur (Beschreibungen von Landschaften, Völkern, Waffen, Architektur), Romane, Hörspiele und "historische Ereignisse" weiter. Ork-Armeen eroberten weite Teile des "Mittelreiches", Heere von Zombies, Erzdämonen, Schwarzmagiern und anderem Düstergezücht den aventurischen Osten. Und die Spieler waren immer mittendrin als Helden einer interaktiv gestalteten Romanhandlung, als wichtigste Schicksalsfiguren ganzer Kaiserreiche.

Die Zahl der "DSA"-Helden allerdings nimmt ab. Aventurien überstand diverse Verlagswechsel (aktuell: Ulisses Spiele), Neuauflagen und 1997 den Tod des viel verehrten Übervaters Ulrich Kiesow, trotzdem wollten 2002 nur noch 20 000 meist mitgealterte Helden die vierte Edition der Basisregeln erwerben.

Denn die Welt des Rollenspiels hat sich längst aus den fantasierenden Köpfen in die virtuelle Welt der Computerrollenspiele verlagert. Millionen Deutsche erleben nun Abenteuer in "World Of Warcraft", "Warhammer Online", "Aion" oder "Age of Conan" - und im virtuellen Aventurien: Seit 1992 sind vier "DSA"-Computerspiele erschienen, das aktuellste "Drakensang" verkaufte sich seit August 2008 weltweit mehr als 450 000-mal. Ein respektabler Erfolg. Die nächsten Pixelabenteuer "Demonicon" und "Am Fluss der Zeit" sind bereits in Arbeit, und der Fantasie 25 Jahre nach Erscheinen von "Das Schwarze Auge" keine Grenzen gesetzt. Eine deutsche Produktionsfirma soll sich Rechte für ein aventurisches Kinoabenteuer gesichert haben.

Hoffentlich stellen sich die Leinwandhelden dann nicht so dämlich an wie Momotos, Thezmar, Rondrian und Hesindior.

Das Schwarze Auge Infos im Internet: www.dasschwarzeauge.de ; www.drakensang.de

Die Fotostrecke zum Fantasyspiel "Das Schwarze Auge": www.abendblatt.de/kultur-live