Hamburg. Kann man politisches Denken prägen, ohne im Fernsehen zu sein? Der langjährige "Spiegel"-Autor Jürgen Leinemann hat das geschafft, allein auf dem bedruckten Papier. Wie sehr er prägte, lässt sich ablesen an der "wohl originellsten Schar von Vorlesern", so "Spiegel"-Chefredakteur Matthias Müller von Blumencron, die gestern in den Kammerspielen zu einer Leinemann-Matinee zusammenkamen - mit dem Freund in ihrer Mitte. Langjährige "Spiegel"-Weggefährten wie Stefan Aust, Erich Follath, Hellmuth Karasek und Matthias Matussek waren ebenso dabei wie die Chefredakteure Hans Werner Kilz ("Süddeutsche Zeitung") und Stephan Andreas Casdorff ("Tagesspiegel"), Kollegen wie Cordt Schnibben, Wibke Bruhns und Birgit Lahann.

Ex-"Stern"-Chefredakteur Michael Jürgs hatte das Treffen initiiert, nachdem Leinemann in seinem Buch "Das Leben ist der Ernstfall" seine dramatische Krebserkrankung geschildert hatte: Ausgerechnet ihm drohte der Zungengrundkrebs die Sprache zu rauben. "Meine Idee war, ihm zusammen mit Freunden eine Stimme zu geben", sagt Jürgs.

Es wurde ein äußerst vergnüglicher Rückblick. Niemand hat das Personal der Macht genauer seziert als Leinemann. Helmut Kohl etwa "kam" nicht, sondern "er quoll heran", schrieb Leinemann. Sein Verhältnis zu Gerhard Schröder war enger, dennoch registrierte er genau, wie Schröder mit zunehmenden Kanzlerjahren "so dampfwalzig wie Kohl" wurde. Genüsslich las Stefan Aust die Reportage vom Wahlabend 2002, als Schröder knapp gewann und den Interviewer Leinemann vor der Tür stehen ließ: "Du hast Privilegien genug gehabt."

"Gute Reportagen frieren die Zeit ein", sagte Cordt Schnibben - Leinemanns Porträts von Lafontaine, Westerwelle, Strauß, aber auch seine Reportagen über Fußball oder die Anekdotenseligkeit von Johannes Rau klingen heute so frisch wie eh und je. Er entzaubere Inszenierungen, sagte Birgit Lahann, aber so schön, dass man ihn zu einem Glas Wein lesen solle: "Leinemann schreibt in Öl." Der Geehrte bedankte sich am Schluss bewegt. Das Publikum in den Kammerspielen applaudierte Leinemann stehend.