Sein Sinn für Ästhetik war früh ausgeprägt. Wenn der Lehrer nach der “schönen Helena“ fragte, dachte Wolfgang an Helena Rubinstein.

Eine gute Fee hatte Wolfgang das Zeichentalent geschenkt, das er entwickelte in den vielen Wochen, die er im Winter im Bett verbrachte, wegen der Atemnot, dem dunklen Engel, der sich auf seine Brust setzte. Die nichts anderes war als eine allergische Reaktion auf die Katzen im Haus, die Spielgesellen - was niemand ahnte damals. Er vertrieb sich die Zeit mit Illustrationen der Märchen, die vorgelesen wurden. Überhaupt Märchen. Er lebte sein eigenes in jenen Nachkriegsjahren auf dem Gutshof seiner Großeltern in Bornstedt am Rande Potsdams. Wanderte über den schattigen Friedhof zum Park Sanssouci, wo das große Schloss auf ihn und den Alten Fritz wartete. Manchmal nahm er eine von Tante Ullas goldgeränderten Sammeltassen mit, setzte sich steif auf einen alten Goldstuhl, führte affektiert das Tässchen zum Mund, schluckte Luft statt Tee und deutete mit Kopfnicken und Gesten elegantes Geplauder an. Stundenlang in seinem einsamen Schloss.

Die Familie Joop war holländischen Ursprungs, die Eltern von Wolfgangs Vater Gerhard lebten in Polen. Der Vater war Postmeister. Als Gerhard ein Kind war, zogen sie nach Potsdam. Der Ururgroßvater mütterlicherseits, ein Ebert, der dem Alten Fritz als "Langer Kerl" diente, hatte das Gut, das bis zur Enteignung 1964 im Familienbesitz geblieben ist, angelegt. Da gab es im und nach dem Krieg, als der Hunger in den Städten kaum zu ertragen war, Kartoffeln, Salat und Erdbeeren, Schweine und Schafe und frische Kuhmilch. Und eine intakte Familie. Aus den Großstädten kamen sie, um wenigstens ein bisschen Suppe zu essen oder Kartoffelschalen und Rüben mit nach Hause zu nehmen. Und im Sommer gab's Spuckkuchen. So wurde der genannt. Weil die Kirschen vom Blechkuchen nicht entsteint waren.

ZUM ERSTEN TEIL DER SERIE: WOLFGANG JOOP - EIN SCHÖPFER VOR DEM HERREN UND LIEBEVOLLER PERFEKTIONIST

So lebte Wolfgang trotz der Zeiten idyllisch mit Mutter und Tanten und Großeltern und Onkels in der ländlichen Umgebung. Der Vater war 1945 verraten worden und in russische Kriegsgefangenschaft gekommen als - absurd - amerikanischer Spion. Sieben Jahre verschwand er im Straflager Buchenwald. Seinen Sohn lernte er erst 1952 kennen, als der acht war.

Ich war angeblich natürlich ein verwöhntes Kind. Die Abwesenheit des Vaters empfand ich nur deshalb, weil dessen Rückkehr immer wieder angekündigt wurde. Und die Sehnsucht der Mutter und Tanten nach Liebe, die es doch nicht gab in diesen Zeiten, beunruhigte mich. Ich wollte kein Mann werden. Als Einzelkind forderte ich von allen Ausschließlichkeit, was mich einsam und verletzlich machte.

Dann holte ihn der Vater nach Braunschweig, wo dieser nach der Entlassung aus Buchenwald als Journalist bei "Westermann's Monatsheften" arbeitete. Für Wolfgang war Braunschweig ein Albtraum. Die Kleinbürgerlichkeit. Die Schulzeit - gefühlte Geiselhaft. Er kränkelte aus Verzweiflung. Hörte im Unterricht nicht zu und bekam nichts mit.

Auf die Frage des Geschichtslehrers "Wer war die schöne Helena?" antwortete ich mit "Helena Rubinstein", und alle hielten mich für exaltiert. Und lautete die Mathematikaufgabe: "Drei Frauen haben je 100 Mark. Wenn ein Pfund Butter fünf Mark kostet, wie viel Butter bekommt jede, und wie kommen sie wieder nach Hause, wenn eine Bahnfahrt zehn Mark kostet?" - dann dachte ich viel lieber darüber nach, was sie wohl zum Einkaufen angezogen haben könnten, wie sie eingerichtet wären, und ob sie verheiratet oder geschieden oder verwitwet waren. Mich hat damals wenig wirklich interessiert. Wahrscheinlich, weil ich immer nur sehnsüchtig darauf gewartet habe, dass ich nach Bornstedt zurückkehren durfte.

Der Vater übte seine Macht aus, mit verzweifelter Härte, weil der Sohn nicht nach seinem Wunsch geraten war, viel zu versponnen, und weil er meinte, er würde ein Versager werden. Logisch, dass Wolfgang als Berufsziel "Straßenfeger" angab. Sein Zeichentalent fanden Mutti und Oma und Opa ganz nett, aber er ließ eine Zeichnung sein, wenn sie nicht seinen Vorstellungen entsprach. Zeigte er so eine Skizze dem Vater, zwang dieser ihn, sie zu Ende zu zeichnen. Das war nichts Gutes, so wie Teller leer essen. Wolfi verlor die Leichtigkeit. Sein Vater nahm ihm die Lust an vielem durch das Reglementieren und die ständige Suche nach einem Sinn in den Dingen. So fand er es pädagogisch wichtig, das Selbstbewusstsein des Sohnes, ein kleines Wunderkind zu sein, in geordnete Bahnen zu lenken, zu disziplinieren und schickte den knapp Zehnjährigen auf die Hochschule der Künste in Braunschweig. Die anderen waren 16, 18 und älter, fanden den Knirps natürlich doof. Der weinte, wenn er los musste. Aber weitergemalt hat er.

Wolfgang schaffte es trotz allem aufs Gymnasium. Der Vater wollte unbedingt eine humanistische Ausbildung, unbedingt das große Latinum. Mit 16 kam Wolfgang wegen drohenden Sitzenbleibens ins Internat. Der Vater hatte die geliebten Sommerferien in Potsdam ersetzt durch eine Tour durch Internate, in denen Wolfgang vielleicht doch versetzt werden könnte. Das Pro-Gymnasium im Harz versprach, wenn er sich drei Wochen in der alten Klasse einigermaßen bewähren würde, könnte er in die nächsthöhere kommen. Sitzenbleiben war unerträglich für den Vater. Der Wissensdurchschnitt der Kinder dort war so unterirdisch, dass Wolfgang es tatsächlich nach drei Wochen in die nächste Klasse schaffte. Damals wurde gerade die Mauer gebaut, und er schrieb einen hilflosen Aufsatz darüber.

Ich konnte ja kein Latein und keine Mathematik und musste in Windeseile - davon habe ich später oft geträumt - rauskriegen: Wer beherrscht überhaupt diese Fächer? Kann mir also helfen? Mit wem würde das Geschäft funktionieren? Ich schrieb ab und bezahlte mit nackten Frauen, gemalt oder gezeichnet. Dann wurden die Jungs beim Onanieren und sich gegenseitig um meine Zeichnungen prügelnd erwischt, und meine Mutter musste antreten, ich sollte von der Schule fliegen. Damals gab's keine Pornoheftchen am Kaugummistand. Und der Direktor wunderte sich über die Sachkenntnis dieses Jungen, wie nackte Frauen denn überall ... aber wirklich, in allen Posen ... Konnte ich gar nicht beantworten. Auch diese Geister hab ich gerufen.

Vier Mark Taschengeld pro Monat. Weniger hatte keiner. Andere hatten schon mal 20 pro Woche. Und man trug Peter-Scott-Pullover, Rollis in Hellblau, dazu Keilhosen und Pepita und Nylon-Trenchcoats in Braun oder Blau. Nur Wolfgang nicht. Dazu kam eine gewisse Verstörung, die auch nicht angesagt war. Also war er generell nicht angesagt und schwieg erst einmal wieder wochenlang - er langweilte sich und war überhaupt nicht cool. Und dachte: Wenn ich nicht haben kann, was die da anhaben, dann fahre ich jetzt nach Hause nach Potsdam und hole mir alles, was mein Opa abgelegt hat (Probleme, in den Osten zu reisen, hatte er fast nie, denn die Ausreise war ja legal gewesen). Also tat er es, und trug mehrere Jahre lang Holzschuhe, handgestrickte Socken, die auch handgestopft waren, alte Cordhosen, Jacken mit Hirschhornknöpfen und all so was und wusste auf einmal: Es geht darum, wie man sich hinstellt, nicht darum, was man anhat. Und alle anderen sahen auf einmal ganz alt aus mit ihrem konfektionierten Zeugs. Und plötzlich wollte jeder das haben, was er trug. Also machte er einen Verleihdienst auf. Das war vielleicht der erste Hinweis auf den späteren Beruf. Und gebar die Erkenntnis, wie wichtig Trendsetten und Haltung sind.

Am Gymnasium in Braunschweig machte er schließlich Abitur. Mit großem Latinum.

Da war auch Angst vor dem Vater. Aber nicht vor den Schlägen. Bis zum 16. Lebensjahr gab es regelmäßig eine Tracht Prügel. Doch Wolfgang erkannte darin die Schwäche, merkte, wie es dem Vater im Grunde wehtat. Angst hatte er vielmehr vor der Melancholie, vor der Traurigkeit. Und wie es eben immer so war, nachmittags machte ihn die Mutter, wohl unbewusst, zum Verbündeten, doch abends lag er allein und unverstanden in seinem Bett mit geballten Fäusten und hasste es, dass die beiden sich wieder verstanden.

Der Vater vertrug russische Musik nicht. Also kaufte Wolfi vom Taschengeld der Großmutter russische Volksweisen und legte die permanent auf. Was hatte er sonst für Möglichkeiten? Zu einer Aussprache kam es nicht.

Obwohl ich lernte, als ich in die Männerjahre kam, ihn auch zu verstehen. Heute versuche ich, meinen Töchtern, die wiederum hart über ihren Vater urteilen, zu erklären, wie wichtig vergeben ist. Für einen selbst. Nicht für die anderen. Die brauchen dein Vergeben gar nicht, doch du musst vergeben, damit du mal Frieden schließt, auch mit dir selbst. Sonst verkümmert deine Seele und macht dein Talent kleiner. Doch am schlimmsten ist es, keine Hoffnung zu haben. Selbst Elend kann eine Geborgenheit sein, wenn du nichts anderes kennst. Aber der Verlust im Hoffen ist unerträglich.

Wolfgang ertrug sein Elend, weil er die Hoffnung Bornstedt hatte. Für ihn war der Osten, nicht der Westen, golden.

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