Hinterhältiger Überfall von Heimweh. Aus dem Nichts der Gedanke: “So alt bin ich schon?!“ Wo kam der her? Ich stand an der Ampel unweit des Imbisses am Grindel, der “Schlemmerhänchen“ ohne h verkauft, aber dafür bis 22 Uhr.

Ausgezogenes Geflügel im Knusper-Bikini drehte sich gleichmütig um die Stange. Pommes schmurgelten. Wachswarm fließende Mayonnaise. Ein Geruchsangriff proustschen Ausmaßes, aus der Kombüse einer Frittenbude stieg meine Kindheit auf, Sommer 1978. Als Vater uns Töchter im Lieferwagen mitnahm; beide auf dem Beifahrersitz, herrlich verboten. Ausflug zum Hühner-Schorsch, Essen mit den Fingern, lümmelnd auf der Motorhaube, Freiheit. Das Leben war groß und weit, ich war klein und glücklich.

Das `78er-Brathuhn war der Anfang einer Eigenart, die im Gegensatz zum proustschen Phänomen - der unfreiwilligen Erinnerungsflut durch Aromen ausgelöst - bisher keinen offiziellen Eingang ins Handbuch der kognitiven Psychologie fand: Ich leide an manisch-appetenzgesteuerter Multipilotagefunktion, kurz: Mampf. Die Topografie einer Stadt merke ich mir anhand kulinarischer Landmarken; das Mampf-Navi verortet Quartiers- und Straßennamen zu einem Stadtplan, der nur aus Geschmackserinnerungen besteht. Beim Schaschlikmann bedeutet "Beim Grünen Jäger", Freds Bratkartoffeln ist gleich Falkenstein, und nach den koscheren Lachsbagels vom Café Leonar geht's rechts zu den Kammerspielen. Bei der Touristenfrage "Wo ist denn das Rathaus?" fällt mir reflexartig ein: "Café Paris! Das geschmeidige Tartar!", zum Schuhladen in Eppendorf dirigiert das Mampf-Navi über ein Café mit saftigen Blechkuchen. Mampf vergisst nie einen gegangenen Weg zum Futtertrog, es säuselt "an den Karamellbrownies links nach Kreuzberg" und "bei den Limanden zum Strand", Norden ist da, wo die Hackbrötchen sind, und der Louvre vis-à-vis der Zwiebelsuppe.

Inzwischen habe ich Mampf im zweiten Stadium. Essen gegen das Vergessen. Gespräche, die nur mit Konferenzplätzchen untermalt sind, verschwinden im Dunkel des Vergangenen - aber ein Brathuhn reicht, und "mit einem Mal war die Erinnerung da", wie Proust es - poesievoller - mit einer Madeleine ergang. Marcel, mein Mampfgefährte im Geiste.

"Die Liebe des Wanderchirurgen" . Premierenlesung mit Wolf Serno, Fr 30.10., 19.30, Speicherstadtmuseum (U Meßberg) St. Annenufer 2, Karten zu 9,50/7,50 erm., T. 32 11 91; www.speicherstadtmuseum.de Psst: Es gibt diesmal nicht nur leckere Schmalzbrote ...

Nina George schreibt jede Woche in LIVE und liebt Hamburg.