Keith Jarretts Solokonzerte sind spirituelle Ereignisse, die blitzschnell von umschlagen können in kleine Schauprozesse gegen unfolgsame Fans.

Berlin. Keith Jarrett ist ein totalitäres Genie. Er verbreitet Angst und Schrecken und Glück. Seine Solokonzerte sind spirituelle Ereignisse, die blitzschnell von Ekstase und Erfüllung umschlagen können in kleine Schauprozesse gegen unfolgsame Fans, die trotz Verbots zu fotografieren, zu husten, zu atmen gewagt haben.

Auch bei seinem mit Hochspannung erwarteten Soloabend in der Berliner Philharmonie machte der Pianist seinem Ruf als extrem verletzlicher Zuchtmeister alle Ehre.

Zweimal brach Jarrett, der 1975 mit dem "Köln Concert" weltberühmt wurde, nach wenigen Takten ab, weil ein Geräusch aus dem Saal an sein Ohr drang. Zweimal stoppte er sich selbst, weil ihm die Richtung, die seine Improvisation nahm, nicht gefiel.

Man darf das marottig finden. Doch für Jarrett heißt Improvisieren totale Selbstentäußerung. Er liefert seine nackte Seele der Diva Inspiration aus, auf dass sie ihn als Werkzeug gebrauche. Manchmal kommt sie, manchmal kommt sie nicht. Fremde Geräusche vertreiben sie rasch. Deshalb ist husten im Konzert wie schwätzen im stillen Gebet oder in der Meditation.

Die erste Hälfte des Konzerts enthielt mit einer mehrteiligen polyfonen Improvisation, einem gemächlichen, bluesigen Ragtime und einem Stück, das in seinem sanften Diskantklingeln wie ein Weihnachtslied für verlorene Seelen klang, schon sehr gutes Material. Doch erst nach der Pause ergaben sich die Musen Jarrett ganz. Auf wie naturhaft sich formende und unaufhörlich verändernde Klang- und Energieströme voll motorischer Intensität folgten eine Ballade und ein erdiger Gospel.

Nachdem der Klavierstimmer einen verrutschten Ton repariert hatte, ließ Jarrett sich zu vier gleichermaßen göttlichen Zugaben herab, die die ganze unfassbare Virtuosität dieses Musikers aufleuchten ließen.