Israels berühmtester Autor Amos Oz spricht mit Armgard Seegers und Claus Strunz über sein besonderes Verhältnis zu Deutschland.

Zuletzt war er der höchst gehandelte Kandidat für den Literaturnobelpreis. Am Wochenende kam Amos Oz für ein paar Tage auf Deutschland-Besuch. In Hamburg traf er sich auch mit dem von ihm "sehr verehrten" deutschen Schriftsteller-Kollegen Siegfried Lenz. Oz, der 30 Jahre in einem Kibbuz lebte und sich seit Langem für die Friedensbewegung in Israel engagiert, wird mehr noch als auf seine Literatur immer wieder auf die Politik seines Landes angesprochen. "Das ist mein Schicksal", sagt er. "Wenn ich in einem Buch über Vater, Mutter, Tochter und Taschengeld schreibe, behaupten die Kritiker garantiert, der Vater stünde für den Staat, die Mutter für Religion, die Tochter, das sei die israelische Jugend, und das Taschengeld die kaputte Ökonomie meines Landes." Wir sprachen mit Oz über Politik und Literatur.

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Amos Oz: Ich muss gestehen, ich habe noch nie etwas von ihr gehört.

Das ging vielen so.

Was bei mir daran liegt, dass ich keine englische Übersetzung kenne. Wenn es Bücher von ihr auf Englisch gibt, will ich sie bald lesen.

Wie beurteilen Sie die Vergabe des Friedensnobelpreises an Barack Obama?

Ich hoffe, er wird selbst sagen: Das ist ein bisschen zu früh. Er hat noch nicht genug getan, was die Auszeichnung jetzt rechtfertigen würde.

Glauben Sie, dass er nun den Friedensprozess im Nahen Osten schneller voranbringen kann?

Ich komme zwar aus dem Land der Propheten, aber ich bin leider keiner.

Sind Sie nicht erblich vorbelastet? Ihr Vater hat doch gespöttelt, König Salomo habe vielleicht die Sprache der Tiere verstanden, Ihre Mutter habe ihn aber übertroffen, denn sie sei sogar mit Handtüchern, Töpfen und Bürsten im Gespräch. Durch Ihre Mutter sollen Sie den Blick auf Dinge und Details gelernt haben.

Ja, das war so ein Mythos in unserer Familie. Aber es ist wirklich so. Sie hat mich gelehrt, genau hinzuschauen. Seit frühester Kindheit fühle ich mich als Beobachter, beinahe wie ein Spion. Ich spähe jeden Raum aus, den ich betrete, um mich später an ihn zu erinnern. Ich beobachte jeden Menschen, den ich treffe, sehr genau. Seien Sie vorsichtig!

Wie sehen Sie Deutschland?

Ich bin 1982 zum ersten Mal nach Deutschland gekommen und musste dazu viele Gefühle überwinden, die ich gegen Deutschland hegte. Über die Jahre war ich oft hierher eingeladen worden und hatte immer Ausreden gefunden, um abzusagen. Ich habe nicht einmal deutsche Produkte gekauft und war mir eigentlich ziemlich sicher, dass ich niemals nach Deutschland fahren würde. Was mich dann vom Gegenteil überzeugt hat, war die Literatur. Ich habe die großen deutschen Autoren wie Siegfried Lenz, Günter Grass, Ingeborg Bachmann oder Heinrich Böll gelesen. Die konnte ich einfach nicht boykottieren. Dann hätte ich mich ja gemein gemacht mit den Schurken. Diese Autoren haben mich berührt. Nach deren Lektüre war es mir unmöglich, Deutschland zu hassen. Meine Abneigung war vorbei.

Welches war das erste Buch?

Siegfried Lenz' Roman "Die Deutschstunde". In den 70er-Jahren. Ein wunderbares Buch. Vielleicht sogar das größte Buch in deutscher Sprache. Seit Lenz mich Anfang der 80er-Jahre im Kibbuz Hulda besucht hat, sind wir Freunde.

Sie haben 30 Jahre im Kibbuz gelebt. Warum sind Sie vor 20 Jahren nach Arad in die Wüste gezogen?

Wir sind weggezogen, weil mein kleiner Sohn damals Asthma bekommen hatte. Die Ärzte haben uns empfohlen, mit ihm in die Berge zu ziehen, wo Wüstenklima herrschte. Mein Sohn ist heute gesund und lebt in Tel Aviv. Meine Frau und ich, wir sind in Arad geblieben. Wir mögen es dort.

Hatte das Leben im Kibbuz Einfluss auf Ihre Arbeit?

Sehr große. Es war meine Universität. Beinahe alles, was ich über Menschen und die menschliche Natur weiß, habe ich dort gelernt. Wir lebten wie in einem Dorf mit 450 Einwohnern. Da bleibt einem nichts verborgen. Es gab keine Geheimnisse. Außerdem hat mir das Leben im Kibbuz bewiesen, dass es neben dem brutalen Kapitalismus und dem brutalen Kommunismus einen dritten Weg gibt. Die frühen Kibbuzim waren eine Kombination aus sozialistischen Ideen und klösterlichem Leben. Das war falsch. Heute sollte man es angenehmer gestalten. Aber ich glaube auch heute noch an eine Zukunft der Kibbuz-Idee. Viele junge Menschen müssen sehr hart arbeiten. Sie verdienen mehr Geld, als sie brauchen, kaufen sich Dinge, die sie nicht wollen, um damit Leute zu beeindrucken, die sie nicht mögen. Es sollte noch einen anderen Lebensplan geben.

Welche Bedeutung hat Deutschland heute in Israel?

Man will wissen, was in Deutschland passiert. Israelis sind sehr sensibel, was Deutschland angeht. Besonders wenn Kritik an der israelischen Politik aus Deutschland kommt. Ich glaube daran, dass jeder Mensch alles kritisieren darf, aber wenn Deutschland Israel kritisiert, reagieren wir immer noch sehr emotional.

Israel war von Anbeginn stark durch die europäische Kultur geprägt. Ist deren Einfluss zurückgegangen?

Nur sehr wenig. Israel versucht ein europäisches Land zu sein. Nicht immer mit Erfolg. Wir tragen deutsche Gene, so wie es in Deutschland immer noch jüdische Gene gibt. Sie sind das Erbe einer sehr unglücklichen Verbindung, die in einem kolossalen Verbrechen endete. Aber wo es gemeinsame Wurzeln gibt, gibt es Gesprächsstoff. Theodor Herzl, der Gründer des modernen Israels, hatte den Traum, dass Israel ein mitteleuropäisches Land werden würde, mit roten Dächern, Ruhezeiten am Mittag, Gemütlichkeit und Menschen, die einander mit "Herr Direktor" oder "Frau Doktor" anreden würden. Das ist natürlich nie eingetreten. Das hängt auch damit zusammen, dass der europäische Einfluss nur ein Teil unseres Landes ist. Israel ist eine Mixtur aus Träumen, Visionen und Plänen. Jeder hatte einen anderen Traum für unser Land. Es gab Marxisten, Zionisten, Religiöse, Sozialdemokraten, Orientalen.

Wie ist das heute?

Das moderne Israel ist eine merkwürdige Mischung all dieser Strömungen. Israel ist ein mediterranes Land, es ähnelt Neapel, Athen, Südfrankreich. Die Menschen sind leidenschaftlich, laut, lebhaft, aufdringlich, herzlich, temperamentvoll, materialistisch, großzügig und gleichzeitig egoistisch. Ich mag das sehr. Wir sind sieben Millionen Bürger, sieben Millionen Premierminister, sieben Millionen Propheten gleichzeitig. Und jeder von uns hat sein eigenes Geheimrezept zur sofortigen Rettung der Welt. Alle reden durcheinander, niemand hört zu. Ich bin der Einzige, der gelegentlich zuhört. Damit verdiene ich mein Geld.

Was wäre Ihr Traum?

Er besteht aus sieben Buchstaben: Frieden.

Ist das realistisch?

Vollkommen. Das Einzige, was ich nicht beantworten kann, ist die Frage, wann er möglich sein wird. Manchmal passieren ja Wunder. Ich hätte vor 30 Jahren auch nicht geglaubt, dass ich eines Tages ein ägyptisches Visum in meinen israelischen Pass bekommen würde, dass ich nach Jordanien würde reisen können. Man bekommt so oft schlechte Nachrichten aus dem Nahen Osten. Ich möchte Ihnen jetzt eine gute Nachricht überbringen: Die meisten Palästinenser wissen, dass es am Ende auf eine Zwei-Staaten-Lösung hinauslaufen wird. Niemand ist darüber glücklich, weder in Israel noch in Palästina. Man weiß, dass man vor einer Operation steht, bei der man eine schmerzhafte Amputation vornehmen muss. Am Ende wird es wie ein Haus sein, aus dem man zwei Apartments gemacht hat. Wie bei Tschechen und Slowaken. Vor 20 oder vor zehn Jahren wusste das niemand. Heute wissen es sehr viele. Das nennt man Fortschritt.

Wie wird es weitergehen?

Wir brauchen auf beiden Seiten mutige Führungspersönlichkeiten, die das umsetzen, was die Menschen im Innern bereits akzeptieren.

Glauben Sie, dass es genügend gute Politiker gibt?

Ja. Es sind nicht immer diejenigen, die an der Macht sind. Aber es gibt sie überall auf der Welt. Mir fällt ein jüdischer Witz ein. Ein Fremder kommt ins Stetl und fragt: Wo wohnt hier der Rabbi? Ein Mann sagt: Oh, der alte Dieb, der wohnt auf dem Berg. Der Fremde klettert hinauf und fragt: Wo wohnt der Rabbi? Und ein Mann antwortet: Dieser Verbrecher, der wohnt dort um die Ecke. Der Fremde geht um die Ecke und fragt, wo der Rabbi wohnt. Ein Mann antwortet: Das ist dieser schreckliche Typ, der wohnt dort oben. Der Fremde geht nach oben zum Rabbi, bespricht mit ihm seine Probleme und fragt ihn dann: Wie viel nehmen Sie dafür? Der Rabbi antwortet: Das kostet nichts. Geben Sie, was Sie wollen. Daraufhin fragt der Fremde: Warum machen Sie's dann? Sagt der Rabbi: Na, wegen des guten Rufs natürlich.

Kann man seine Feinde mit Humor besiegen?

Wenn ich Humor in kleine Kapseln packen und an Fanatiker verteilen könnte, würde ich den Nobelpreis bekommen. Nicht den für Literatur, aber den für Medizin.

Sie haben einen Vers-Roman über junge Paare in Israel geschrieben, der sehr schwer zu übersetzen war. Was ist das wichtigste Thema für jungeisraelische Paare?

Lassen Sie mich zunächst etwas zum Thema Übersetzungen sagen. Literatur in eine andere Sprache zu übersetzen ist so, als würde man ein Violinkonzert auf dem Klavier spielen. Es geht. Aber versuchen Sie nicht, dem Klavier Violinklänge zu entlocken. Wer übersetzt, muss das Werk neu schreiben. Was junge Paare in Israel angeht, haben sie, glaube ich, ähnliche Probleme wie hier. Zumindest in Tel Aviv. Jerusalem ist eine religiöse Stadt. Dort heiratet man jung und bekommt viele Kinder. In Tel Aviv denkt man westlich, in Jerusalem orientalisch.

In Ihrer autobiografischen "Geschichte von Liebe und Finsternis" schreiben Sie, dass Sie nach dem Selbstmord Ihrer Mutter, nach dem Tod Ihres Vaters nie mehr von Ihren Eltern gesprochen hätten. Das ist ungewöhnlich.

Sehr viele Jahre war ich sehr wütend auf meine Mutter, weil sie sich umgebracht hatte. Als sei sie mit einem Liebhaber davongelaufen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Auf meinen Vater war ich wütend, weil er das zugelassen hatte. Und auf mich, weil ich als Kind versagt hatte, nicht gut genug war, um sie zu halten. Ich hatte Schuldgefühle. Schuldgefühle sind ja eine jüdische Erfindung. Wir haben sie sehr erfolgreich auch in der christlichen Welt verteilt. Und haben auch deswegen wieder Schuldgefühle. Meine Wut verschwand erst spät, machte Platz für Vergebung und Neugier. Als ich das Buch schrieb, war es, als ob ich die Toten zum Kaffee einladen würde. Jeder sollte so etwas mal tun. Mit den Verstorbenen über unausgesprochene Dinge sprechen.

Sie haben nach dem Tod Ihrer Mutter sehr nach Ordnung verlangt. Brauchen Sie diese Ordnung auch beim Schreiben?

Einen Roman zu schreiben verlangt nach Ordnung. Das ist fast so wie in der Architektur. Man muss alles in die richtige Ordnung bringen.

Was kommt zuerst, Fakten oder Imagination?

Bei mir beginnt es mit Stimmen, die ich höre. Diese Stimmen materialisieren sich nach und nach zu Figuren. Erst später, wenn sich mehrere Figuren zu Persönlichkeiten herausgebildet haben, entwickelt sich aus ihnen eine Geschichte.

Wissen Sie genau, wohin sich Ihre Geschichten entwickeln werden, bevor Sie anfangen zu schreiben?

Nein. Manchmal gehen die Figuren ganz woanders hin, als ich will. Dann streite ich mich mit ihnen.

Und dann?

Meist endet es in einem Kompromiss. Ich kann nicht mit ihnen machen, was ich will.