Herta Müller beschreibt das Schicksal der Rumäniendeutschen im Rumänien unmittelbar nach dem Krieg.

Wir waren alle Deutsche und wurden von zu Hause abgeholt. Außer Corina Marcu, die mit Flaschenlocken, Pelzmantel, Lackschuhen und einer Katzenbrosche am Samtkleid ins Lager kam. Sie war Rumänin und wurde in Buzau nachts auf dem Bahnhof von den Wachsoldaten unseres Transports eingefangen und in den Viehwaggon gesteckt. Vermutlich musste sie die Lücke auf der Liste füllen, eine Tote ersetzen, die auf der Fahrt gestorben war. Sie erfror im dritten Jahr beim Schneeschaufeln an einer Bahnstrecke. Und David Lommer, der Zither-Lommer genannt wurde, weil er Zither spielte, war Jude. Weil man ihm sein Schneideratelier enteignet hatte, fuhr er als Schneidermeister durchs Land und ging in die besseren Häuser. Er wusste nicht, wieso er als Deutscher auf die Liste der Russen kam. Zu Hause war er in der Bukowina, in Dorohoi. Seine Eltern und die Frau mit den vier Kindern waren vor den Faschisten geflohen. Wohin wusste er nicht, und sie wussten auch schon vor seiner Deportation nicht, wo er war. Er nähte in Großpold für eine Offiziersfrau ein Wollstoffkostüm, als er abgeholt wurde.

Wir waren alle in keinem Krieg, aber für die Russen waren wir als Deutsche schuld an Hitlers Verbrechen. Auch der Zither-Lommer. Er musste dreieinhalb Jahre im Lager zubringen. Eines Morgens hielt ein schwarzes Auto vor der Baustelle. Zwei Fremde mit edlen Karakulmützen stiegen aus und sprachen mit dem Vorarbeiter. Dann nahmen sie den Zither-Lommer im Auto mit. Ab dem Tag blieb in der Baracke das Bett vom Zither-Lommer leer. Seinen Koffer und seine Zither haben Bea Zakel und Tur Prikulitsch wahrscheinlich auf dem Basar verkauft. Bea Zakel sagte, die Karakulmützen waren hochrangige Parteileute aus Kiew. Sie hätten den Zither-Lommer nach Odessa gebracht und dort eingeschifft nach Rumänien. Als Landsmann konnte der Rasierer Oswald Enyeter sich erlauben, Tur Prikulitsch zu fragen, warum nach Odessa. Tur sagte: Der Lommer hatte hier nichts zu suchen, von dort kann er hin, wo er will. Ich sagte zum Rasierer, statt zu Tur: Wohin soll er wollen, bei dem zu Hause ist niemand mehr. Tur Prikulitsch hielt gerade den Atem an, um nicht zu wackeln. Der Rasierer stutzte ihm die Nasenhaare mit einer rostigen Schere. Als auch das zweite Nasenloch fertig war, bürstete er ihm die Haarschnipsel wie Ameisen vom Kinn und drehte sich halb vom Spiegel weg, damit Prikulitsch nicht sieht, dass er mit dem Auge zwinkert. Bist du zufrieden, fragte er. Tur sagte: Mit meiner Nase schon.

Textauszug aus Herta Müllers aktuellem Buch "Atemschaukel" (Hanser-Verlag, 304 Seiten; 19,90 Euro).

Am 27. Oktober liest Herta Müller auf Einladung des Literaturhauses und NDR Kultur im Liebermann-Studio des NDR; 20 Uhr, 6-10 Euro.