Die Regisseurin und Autorin ist bei Kinofestivals so gefragt wie auf der Buchmesse. Präzise schildert sie Chinas Stimmungslage.

Hamburg. Xiaolu Guo ist ein "Drifter", eine Treibende. Ihr Element ist das große Meer zwischen Kulturen und Kontinenten. Ihr Zuhause sind Hotelzimmer in Paris, London und für einige Monate im Jahr auch mal ihre Heimat China. "Ich bewege mich ständig weiter weg von der Mehrheit und dem Mainstream an den Rand. Im Leben und in der Arbeit", sagt Guo.

Derzeit driftet die chinesische Autorin und Filmemacherin atemlos von einem Festival zum nächsten. Ende August wurde sie in Locarno für die Hamburger Koproduktion "She, A Chinese" mit dem Goldenen Leoparden geadelt. Dieser Tage ist sie beim Hamburger Filmfest zu Gast, um das Werk gemeinsam mit der Dokumentation "Once Upon A Time Proletarian - 12 Tales Of A Country" vorzustellen. Mitte Oktober jettet sie dann wieder auf die Frankfurter Buchmesse. Der neue Roman "Ein Ufo, dachte sie" will ja auch noch präsentiert werden.

Kaum jemand fängt seismografisch die aktuelle Stimmungslage in China so präzise ein wie Xiaolu Guo. Ihre Arbeiten bevölkern Suchende und Träumer. Erlebnishungrige Menschen, die an ihr Recht auf Glück auf dieser Erde glauben - und sich mit widrigen Umständen in einer Welt des Wandels konfrontiert sehen. Aufgeben würden sie deshalb nie. Meisterhaft erzählt Guo davon in der Charakterstudie "She, A Chinese".

Die Glückssuche der jungen Li Mei aus der bäuerlichen Suppenküchenwelt endet zunächst in einem "Liebessalon" in der Provinzhauptstadt, wo sie sich in einen Profi-Schläger verliebt. Als dieser umkommt, reist sie mit seinen Ersparnissen nach London. Hier lernt Li Mei den rauen Charme des illegalen Immigrantenalltags kennen: miese Tagesjobs, Massenschlafsäle, ein Leben im Dunkeln. Vorübergehend entkommt sie dem Elend in einer Ehe mit einem Pensionär, den sie schon bald für einen indischen Imbissbetreiber verlässt. "Sie erlebt eine physische und emotionale Odyssee", so Guo. Am Ende ist sie eine Entwurzelte - aber auch eine, die sich in einer chaotischen globalisierten Welt behauptet.

Rohe Gitarren beflügeln den Realismus des Films, in dem sich die Figuren minimalistisch, fast schlaftrunken bewegen. "Für ihre Lust und ihre Neugier bezahlt die Jugend einen Preis", meint die Regisseurin. Der ist häufig hoch, wie auch die Dokumentation "Once Upon A Time Proletarian" zeigt. In zwölf Kapiteln, die nichts beschönigen, erzählen malochende Fischverkäufer, Hotelangestellte, ewige Mao-Anhänger und Bauern von der oft bedrückenden Gegenwart in China - und ihren nicht schweigen wollenden Sehnsüchten nach einem besseren Leben.

Als Vertreterin der jüngeren Künstlergeneration interessiert sich die auf dem Land aufgewachsene Xiaolu Guo nicht für die Martial-Arts-Dramen ihrer Lehrer Chen Kaige oder Zhang Yimou. "Mich beschäftigt das Dilemma des modernen Lebens, die Isolation und die Verwirrung der Liebe." Guo selbst, 1973 zum Ende der Kulturrevolution in einem südchinesischen Fischerdorf geboren, erlebte zu Hause die maoistischen Parolen ihrer Mutter, einer Schauspielerin. Der Vater, ein Landschaftsmaler, vergriff sich aus Sicht der politischen Funktionäre in der Farbe und landete im Arbeitslager. Die unangepasste Xiaolu Guo besuchte die Zentrale Filmhochschule in Peking und schrieb Drehbücher für TV-Soaps. Später ging sie mit einem Stipendium nach London.

Seither verfilmt sie stets ihre eigenen Bücher. Manche schreibt sie auch nur fürs Regal. Nach sieben weitgehend unbemerkten Romanen gelang der 36-Jährigen mit "Kleines Wörterbuch für Liebende" (2006), ebenfalls über eine junge Chinesin, die sich in London durchschlägt, weltweit der literarische Durchbruch. Soeben ist der Nachfolger "Ein Ufo, dachte sie" auch bei uns erschienen. Auch darin vermischen sich Paralleluniversen auf ironische Weise. Eine unverheiratete Dorfbewohnerin sieht im Jahr 2012 eine Himmelserscheinung, begegnet einem verletzten Fremden im Reisfeld und versorgt ihn. Das ist zu viel für die chinesische Obrigkeit. Agenten löchern die Bewohner. Das Dorfgefüge gerät vollends aus dem Lot, als der Fremde, ein Amerikaner, auch noch Geld schickt. Köstlich parodiert Guo hier die Funktionäre, die Landbewohner - und sogar eine weibliche Mao-Figur.

Egal ob in Film oder Literatur, Xiaolu Guo sieht sich zuallererst als Geschichtenerzählerin. Das Drehbuch zu "Ein Ufo, dachte sie" errang in diesem Jahr bei den Filmfestspielen von Cannes den "Best Script Prize". Verfilmen wird Guo es im kommenden Frühjahr - wiederum mit erlesener Hamburger Beteiligung: der Filmproduktion Corazón International von Fatih Akin und Klaus Maeck.

Xiaolu Guo wird wohl weiter durch die Welt driften.