Rückblicke, Einsichten und Perspektiven: Christoph von Dohnányi, Chefdirigent des NDR-Sinfonieorchesters, gibt kurz vor seinem 80. Geburtstag ein Interview.

Hamburg. Wenn ein Hamburger Taxifahrer die Privatadresse eines NDR-Chefdirigenten und ehemaligen Staatsopern-Chefs kennt, kann die Arbeit so blass und spurlos nicht gewesen sein. Wenige Tage vor seinem 80. Geburtstag am 8. September findet sich zwischen Jubiläumsvorbereitungen und Probenterminen eine Lücke im Terminplan für einen Hausbesuch bei Christoph von Dohnányi. Auf der Othmarscher Gartenterrasse geht es nicht nur um die eigene Karriere, sondern auch um Kultur in Hamburg und den Rest der klassischen Musikwelt.

Abendblatt: Simon Rattle, seit 2002 Chef der Berliner Philharmoniker und 54, hat mir zum Thema Erfahrung gesagt, Dirigenten werden ab 60 kompetent. 1989 hatten Sie unter anderem Intendantenjobs in Frankfurt und Hamburg und die ersten fünf Jahre beim Cleveland Orchestra hinter sich. Bis dahin haben Sie sich also ganz gut durchgeschlagen.

Christoph von Dohnányi: Simon sagt immer so Ex-cathedra-Sachen (lacht). Da ist aber auch ja was dran. Wenn man bei Verstand - und bei Ohr - bleibt, wird man wahrscheinlich besser, weil man mehr zu sagen hat.

Abendblatt: Ab wann haben Sie sich innerlich sicher gefühlt?

Dohnányi: Ich hab ja so von der Pike auf gelernt. Heute ist das ja ganz anders. Heute werden Sie als Talent plötzlich damit konfrontiert, die Erste Mahler dirigieren zu sollen. Manche machen sie dann aus dem Gefühl heraus.

Abendblatt: Geht es nicht genau darum? Dinge aus dem Gefühl heraus zu dirigieren?

Dohnányi: Nein, Sie können beispielsweise eine Erste Mahler nicht aus dem Gefühl heraus dirigieren. Die müssen Sie erst einmal frei machen fürs Gefühl.

Abendblatt: In einer früheren Geburtstagsgratulation wurde Ihnen "genialische Pedanterie" bei der Proben-Arbeit vorgeworfen.

Dohnányi: Das gibt's doch gar nicht. Pedantisch ist das falsche Wort. Ich bin sicherlich immer innerlich gezwungen, in die Nähe dessen zu kommen, was ich mir vorstelle. Davon verfolgt zu sein, das kann schon sein.

Abendblatt: Verfolgt - das klingt so, als ob es Sie um den Schlaf bringt, dass Sie nicht wissen, wie Sie dieses oder jenes dirigieren sollen.

Dohnányi: Ich weiß es ja! Aber ich werde verfolgt von dem Bild, das ich habe.

Abendblatt: Schalten Sie dann nach Proben-Ende ab?

Dohnányi: Kann ich überhaupt nicht. Ich mache auch keine meiner Frauen verantwortlich für die Unerträglichkeit, die ich zu Hause biete. Das ist ein Beruf, der nicht loslässt. In dieser Beziehung bin ich leider ein richtiger Workaholic.

Abendblatt: Da wir das große Bilanz-Interview führen - was haben Sie bereut? Damals in Hamburg die Chef-Brocken an der Oper so dramatisch hingeworfen zu haben, wie Sie es taten?

Dohnányi: Ich bereue da nichts. Wir haben gute Vorstellungen gemacht. Aber es gibt schon Fälle, wo ich gesagt hätte, zu dem Konflikt hätte es nicht kommen müssen. Hamburg ist eine Stadt, die man sehr gut kennen muss, um die gesellschaftlichen Mauern etwas porös zu machen. Ich hab wirklich der Arbeit wegen oft sehr wenig Zeit dafür gehabt. Als ich hier Intendant wurde, hab ich Rolf Liebermann gefragt, wie macht man hier die Intendanz? In Frankfurt hatte ich das recht erfolgreich gemacht. Und er meinte: Wissen Sie, Christoph, da gehen Sie am Mittwoch in den Rotary Club ... Die kamen dann auch auf mich zu. Aber ich bin dafür nicht geeignet. Und hin und wieder war ich vielleicht auch etwas zu bissig. Ich mein das oft gar nicht so, aber oft sage ich einfach, was ich denke, und das trifft dann härter, als ich es will.

Abendblatt: Beim Punkt Bereuen ist das Konto also relativ klein.

Dohnányi: Bereuen müsste man, wenn man jemandem mit Absicht etwas angetan hätte. Das hab ich nie getan. Nicht mal bei den Nazis, die mir nach Kriegsende begegnet sind.

Abendblatt: Sind Sie mit jetzt fast 80 so, wie Sie sich das mit 40 vorgestellt haben?

Dohnányi: Eigentlich hab ich mir gar nicht viele Hoffnungen gemacht für 80. Wenn ich 70 schaffe, und vor allem: Wenn ich den Jahrhundertwechsel schaffe, dann ist's schon fein, dachte ich mir immer.

Abendblatt: Alle wichtigen Orchester, alle ersten Opern- und Festspiel-Adressen haben Sie mehrfach durch. Wie motivieren Sie sich jetzt noch?

Dohnányi: Meine Frau sagt oft, du musst dieses und jenes doch jetzt nicht wirklich auch noch machen. Muss ich auch nicht, aber ich muss es tun. Das ist das Problem, dieses innere Müssen. Nach außen muss ich überhaupt nichts mehr.

Abendblatt: Was steht noch auf Ihrer Wunschliste?

Dohnányi: Ich würde gern mal probieren, bei den Konzerten in dieser Stadt zyklisch anders zu arbeiten, als es bislang hier passiert. Warum kann man nicht mit den drei Orchestern versuchen: Eines macht wirklich das 19., ein anderes wirklich das 20. Jahrhundert. Das würde eine Stadt musikalisch mehr zusammenschweißen.

Abendblatt: Danke für die Steilvorlage. Haben Sie das den Kollegen der anderen großen Orchester, Philharmoniker und Symphoniker, schon vorgeschlagen?

Dohnányi: Mit Simone Young habe ich mich sehr deutlich und sehr gut unterhalten, Jeffrey Tate kenne ich schon sehr lange. Gespräche zwischen uns drei haben nicht stattgefunden. Aber ich hätte das noch gern.

Abendblatt: Und wie beurteilen Sie den Zustand der hiesigen Klassik-Szene?

Dohnányi: Die Zukunft muss großstädtischer sein.

Abendblatt: Der Umkehrschluss wäre: Sie ist zu kleinstädtisch.

Dohnányi: Zwischen Klein- und Großstadt gibt es einiges, und kulturell gesprochen ist Hamburg dazwischen. Hamburg kann sich nicht mit London, Paris, New York oder Berlin messen, was das angeht. Die Menschen geben sich große Mühe, aber das richtige Powerplay spüre ich hier nicht.

Abendblatt: Mit Ihrem anschaulichen Vergleich über die Notwendigkeit von Beethovens Neunter und Coca-Cola haben Sie in der Frühzeit der Elbphilharmonie-Debatte viel Nachdenken und viel Bewegung in der Hamburger Kulturszene ausgelöst. Wie beurteilen Sie die Situation jetzt, während der Bau wächst?

Dohnányi: Hamburg ist in der Gefahr, eine zu schöne Stadt zu sein. Aber es gibt hier viel zu viel Gegeneinander und nicht genug von der Einstellung "Was können wir zusammen schaffen?" Hier fehlt noch der Stolz auf viele der Institutionen. Sie werden besucht, aber sie werden nicht umarmt.

Abendblatt: Die anfängliche Elbphilharmonie-Euphorie hat angesichts der Preisexplosionen und Planungsdebakel dramatisch gelitten.

Dohnányi: Die Entscheidung für den Bau war eine ziemliche Tat vom Senat und vom Bürgermeister, der ansonsten ja nicht so viel mit Kultur am Hut hat. Aber er hat damals getan, was richtig war. Und jetzt ist die Zeit, um die Kultur zu stützen, zu fördern und attraktiver zu machen.

Abendblatt: Wie gehen Sie als 79-Jähriger mit dem Gedanken an die eigene Endlichkeit um?

Dohnányi: Es treibt mich nicht um, aber man denkt öfter dran als früher. Mich hat kürzlich jemand gefragt, wie ich mir das Jenseits vorstelle. Die schlimmste Enttäuschung wäre, wie vor dem Leben. Wenn es hinterher genauso wäre, wäre das nicht sehr erfindungsreich. Man muss mal davon ausgehen. Doch ich glaube an nichts, was sich Menschen ausdenken können.

Abendblatt: Haben Sie sich insgeheim ein Datum vorgenommen, eine Frist, nach der Sie endgültig privat sind?

Dohnányi: Wenn ich merke, dass mein Gehör nachlässt. Aber neulich bei einer Ligeti-Probe mit dem SHMF-Jugendorchester auf Gut Salzau, da war immer irgendwo ein A drin in dem Ligeti-Stück. Selbst die jungen Leute haben das teilweise nicht gehört. Wir haben dann herausgefunden: Das kam vom Nachbarhof, von einer Maschine. Und da hab ich den Musikern gesagt: Kinder, solange ich das höre und ihr nicht, solange dirigiere ich noch.

Geburtstagskonzert: 8.9., 19 Uhr, Laeiszhalle, Gr. Saal. NDR Sinfonieorchester, NDR-Chor mit Überraschungsprogramm. Solisten: Thomas Hampson (Bariton), Emmanuel Ax (Klavier), Frank Peter Zimmermann (Violine). Kartentel. 01801/78 79 80. Im Oktober soll Klaus Schultz' Buch "Offen sein zu-hören" im Murmann-Verlag erscheinen.