Deutsche schätzen vor allem Spiele, in denen sie planen können und Chef der eigenen virtuellen Welt sind.

Hamburg. Wer sehr viel Geld hat, kann sich irgendwann mit der Sydney Opera, der Freiheitsstatue oder dem Berliner Reichstag schmücken. Das ist dann einer der Höhepunkte des Videospiels "CitiesXL", in dem man einen Stadtstaat lenkt. Der Spieler ist Gott und Bürgermeister zugleich. Von oben auf seine Länder blickend, baut er Straßen und Wohnkomplexe, legt Felder an, fördert Öl. Das Spiel wurde gerade auf der Kölner Messe "Gamescom" vorgestellt. Es hat alle Chancen für einen größeren Erfolg im Herbst.

Jedenfalls in Deutschland. Denn genau dieses Genre, das Strategie- und Aufbauspiel, lieben die Deutschen ganz besonders. Es verkauft sich hier nicht nur hervorragend, es ist auch der Bereich, in dem die etwas rückständige deutsche Spieleindustrie international Maßstäbe setzt - angefangen mit den "Siedlern", das 1993 in Mülheim an der Ruhr erfunden wurde.



Das Phänomen reizt dazu, alte Klischees zu untermauern. Ausgerechnet das Land, dessen Revolutionen immer scheiterten und das sich nach der Reichsgründung 1870/71 in eine international beispiellose Biedermeier-Bürgerlichkeit zurückzog, liebt also bürokratische Spielchen, in denen man baut und plant, sein eigenes Reich herzaubert und ganz Herr einer kleinen, virtuellen Schrebergartenscholle wird.


"Deutschland ist ein dicht besiedeltes, hoch organisiertes Industrieland mit einer überalterten Bevölkerungsstruktur. Nirgends konnten sich so viele verhärtete Strukturen ausbilden wie hier", sagt Tobias Breiner dazu, Professor für virtuelle Realitäten an der Fachhochschule Heidelberg. "Das Gefühl, von einem leblosen System dominiert zu werden, dürfte in Deutschland stärker sein als anderswo." Das Strategiespiel wäre demnach die klassische Kompensation. Es verleiht dem Spieler die Macht, endlich einmal zu entscheiden. Und das sogar in einem komplexen System, also genau dem, was sonst Angst macht. "Das ökonomische Zusammenspiel wird, wie die aktuelle Wirtschaftskrise zeigt, ja noch nicht einmal von einem Gros der Wirtschaftswissenschaftler verstanden."


Große Spiele dieses Typs erscheinen derzeit beinahe wöchentlich. Das Prinzip ist fast immer dasselbe - man muss mit seinen Ressourcen haushalten, um eine Stadt oder Armee zum Florieren zu bringen. Durch die vermeintlich typisch deutschen Tugenden wie Fleiß und Gründlichkeit kann man schnell vorankommen. Nur die Szenerien der Spiele wechseln. "East India Company" will in die Kolonialzeit versetzen. Dazu muss man ein Handelsimperium von Europa bis in den Fernen Osten ausbauen. Das derzeit komplexeste Spiel dieser Art ist "Anno 1404". Es ist der vierte Teil einer Reihe, und obwohl offensichtlich ist, dass hier ein altes Prinzip nur immer wieder leicht erweitert wird, ist es der aktuelle Sommerhit für Computerspieler. Der Hersteller Related Designs sitzt fernab glamouröser Handelsrouten in Mainz. Er hat das Prinzip des Wirtschaftsstrategiespiels mit dem Entdeckertrieb verbunden. Die Landkarte des Spiels wird ständig größer, hat unbekannte dunkle Ecken.


Das kann durchaus fesseln. Hier eine Mauer einreißen, dort eine Kirche versetzen, Platz schaffen für eine neue Technologie - etwa die befestigte Straße -, so puzzelt man an seiner eigenen Welt herum, bis sie entweder wirtschaftlich zusammenbricht oder eine schöne Weltstadt wird. Beides mag passieren.


Die neue Weltflucht der Deutschen ist seltsamerweise eine ins Topmanagement, das doch gerade von Hypo Real Estate und anderen so tief diskreditiert wurde wie noch nie.


In diesem Phänomen scheint zunächst der alte Glaube auf, dass man selbst besser könne, was "die da oben" nicht schaffen. Es funktioniert, weil der Durchschnittsmensch seine eigenen Führungskräfte für genauso dumm hält wie sich selbst. Vielleicht darf das Spiel aber der wirklichen Welt daher nicht allzu riskant nahekommen: Der Exotismus fremder Welten und vergangener Jahrhunderte läuft beim Strategiespiel oft besser als der Bezug zur Gegenwart. Das Spiel "SimCity Societies", das sich vor zwei Jahren modern und sogar futuristisch gab, scheiterte am engen Bezug zu der argen Gegenwart. Es arbeitete mit abstrakten Ressourcen wie staatlicher Autorität und allgemeiner Kreativität, es sah architektonisch hoch aktuell aus - und es wurde kein Erfolg.


So lebt in dem modernsten aller Medien eine vielleicht sehr deutsche Innerlichkeit weiter. Der Deutsche hat ohnehin, was das Spielen angeht, einen ganz besonderen Ruf. Einerseits hat "Spielen" nur hier einen starken Beiklang von Kinderkram und nicht ganz ernst zu Nehmendem. Andererseits sind die Deutschen die große Nation der Brettspieler - Spiele wie "Die Siedler von Catan", "Carcassonne" oder "Scotland Yard" werden im Rest der Welt "German Games" genannt. Man nennt ein Brettspiel dort "German style", wenn es darin weniger um Würfelglück geht als um planvolles Handeln und Vorausdenken. Auch die Tradition des "Spieleabends" mit Freunden muss man Russen oder Italienern erst einmal erklären. Vor allem Deutschland schiebt gern Figürchen auf Brettern herum, die eine Welt bedeuten.


Offenbar ist dabei unbedeutend, ob Pappe und Plastikmännchen dieses Prinzip mit Leben erfüllen oder digital-virtuelle Konstruktionen. Mit dem "Yvio", einem sprechenden Brettspiel-Computer, hat der deutsche Spieleverlag Amigo sogar gerade beides verbunden. Er liefert Brettspiele, bei denen es um Piraten oder Drachen geht. Doch die Spielfiguren kommunizieren elektronisch mit einem runden Gerät, das in der Mitte des Bretts steht. Es teilt den am Tisch Sitzenden sprechend mit, wie viele Dukaten sie besitzen oder welche Seeräuber ihnen gerade auflauern. So hat das Computer- Strategiespiel auch die Traditionalisten erreicht.


Bei seinen Forschungen stellte der Games-Forscher Breiner auch fest, dass in Ländern, die mit hoher Kriminalität zu kämpfen haben, Videospiele erfolgreich sind, in denen Verbrechen vorkommen. So verkaufte sich "Grand Theft Auto IV" besonders gut in Bogota. "Vermutlich haben Spiele eine autotherapeutische Wirkung, man behandelt sich selbst beim Spielen psychologisch", sagt Breiner. "Wie auch Märchen sind sie eine Reise in das eigene Unbewusste. Der Spieler identifiziert sich mit den Schatten, die ihn ängstigen."


Genau das übertragt der Wissenschaftler auch auf Deutschland: Dort sind die Strategie- und Simulationsspiele beliebt, besonders solche, bei denen man Städte aufbaut und verwaltet. Die Altersverteilung der Nutzer ist eigenartig: Ganz alte und ganz junge Spieler lieben sie. Breiners Erklärung: Erste arbeiten das Trauma des Zweiten Weltkrieges auf, nach dem alle Städte zerstört waren. Letztere wollten sich vom Zwang der verwalteten Welt lösen, wollen einmal außerhalb des Systems stehen, das sie sonst so drangsaliert.