Till Endemann schildert Ursachen und Folgen einer Katastrophe, bei der 71 Menschen ihr Leben ließen.

Drama: Flug in die Nacht - Das Unglück von Überlingen.

20.15 Uhr ARD

Am Abend ist die Idylle noch perfekt: Johann Lenders liest seiner Tochter eine Gute-Nacht-Geschichte vor, er küsst seine Frau liebevoll zum Abschied, packt den selbst gebackenen Kuchen ein und macht sich auf den Weg zur Arbeit: zur AirGuide Control, einer Luftüberwachungseinrichtung am Zürcher Flughafen. Drei Stunden später passiert, was den Tag zum schlimmsten seines Lebens macht: "Das Unglück von Überlingen". Es ist der 1. Juli 2002, kurz vor Mitternacht, als über dem Bodensee zwei Flugzeuge kollidieren. 71 Menschen sterben, mehr als die Hälfte davon Kinder. Es ist die größte Nachkriegskatastrophe im deutschen Luftraum. Ist der diensthabende Fluglotse Lenders schuld? War es menschliches Versagen oder ein technischer Fehler? Und spielt das überhaupt eine Rolle, wenn ohnehin nichts mehr rückgängig zu machen ist? Davon, wie wichtig für die Hinterbliebenen eine Erklärung dessen, was sich zugetragen hat, ist; wie wichtig die Suche ist nach einem Schuldigen und einem Schuldeingeständnis, davon erzählt das Drama von Till Endemann, das sich an wahren Ereignissen orientiert. Die Namen aller Betroffenen sind geändert, die Fakten entsprechen größtenteils der Realität.

Nicht nur der Lotse Johann Lenders (Ken Duken) erlebt den schlimmsten Tag seines Lebens, auch der russische Architekt und Familienvater Yuri Balkajew (Jevgenij Sitochin), der bei dem Unglück seine Frau und seine beiden Kinder verliert. Geschickt verwebt Endemann die Schicksale beider Männer, von denen sich nicht genau sagen lässt, ob sie Opfer oder Täter sind, wahrscheinlich beides gleichermaßen.

Balkajew wartet am Flughafen in Barcelona auf die Ankunft seiner Familie aus Russland, die er seit Monaten nicht gesehen hat. Als die Bashkirian-Airlines-Maschine nicht eintrifft, macht er sich sofort auf den Weg zum Unglücksort, wo die Rettungskräfte nicht mehr tun können, als Leichen zu bergen. Aus 11 000 Meter Höhe sind die Passagiere in die Tiefe gestürzt.

Lenders beobachtet die Kollision der Bashkirian Airlines und einem Frachtflugzeug im Luftraum von Überlingen via Bildschirm. Er sieht mit an, wie sich zwei Dreiecke Minute um Minute näher kommen und schließlich verschmelzen. Der Monitor wird schwarz. Erst später begreift er genauso wie der Zuschauer die fatale Verkettung dessen, was sich in dieser Nacht ereignet hat: der Personalengpass, der dazu führt, dass Lenders den Nachtdienst allein bewältigen muss. Die Wartungsarbeiten, die die Telefonstandleitung außer Gefecht setzen. Es sind, wie so oft, banale und gleichzeitig fatale Kommunikationsprobleme, die das Unglück letztendlich heraufbeschwören. Und es sind Kommunikationsprobleme, die später, als es an die Verarbeitung des Schreckens geht, alles noch verschlimmern.

Denn die AirGuide Control hat nur ein Ziel: jegliche Schuld und die damit drohenden Schadenersatzforderungen von sich zu weisen. Lenders wird von der Öffentlichkeit abgeschirmt und in seinem Schockzustand allein gelassen. Wo es um Millionensummen geht, ist kein Platz für die Befindlichkeiten des Einzelnen. Auch die Angehörigen der Opfer müssen auf eine Entschuldigung der Verantwortlichen verzichten - "laufende Untersuchungen" nennt man das in Anwaltssprache. In Lenders aber wächst das übergroße Bedürfnis, sich zu entschuldigen; in Balkajew der Wunsch, den Tod seiner Familie zu rächen.

"Flug in die Nacht" ist weniger ein Katastrophenfilm als die sehr präzise Rekonstruktion eines Ereignisses, die einen den Kopf schütteln lässt über den Leichtsinn, den Profitwahn und die Ignoranz, wegen derer 71 Menschen ihr Leben lassen müssen. Vielmehr aber noch ist der Film eine einfühlsame Tragödie über zwei Männer, die an ihrer Trauer und ihren Schuldgefühlen zerbrechen. Ken Duken und Jevgenij Sitochin spielen das mit einer Eindringlichkeit und Intensität, dass man mit ihnen zusammen durch die Hölle geht.