Die Chance für echte Entdeckungen war groß bei den Ballett-Tagen. Doch sie wurde von den Besuchern nicht immer genutzt.

Hamburg. Rauschender Beifall, Rosensträuße und Konfettiregen - das sind die garantierten und traditionellen Zutaten der Nijinsky-Galas als Abschluss der Hamburger Ballett-Tage in der Staatsoper.

Die 35. Gala aber stand unter einem besonderen Stern, dem der Ballets Russes. Ballettintendant John Neumeier hatte während der gesamten zu Ende gegangenen Spielzeit dieser legendären Truppe, die von 1909 bis 1929 die Ballettwelt revolutionierte, zum 100. Geburtstag gratuliert. Die gut fünfstündige Gala am Sonntagabend war noch einmal ein Feuerwerk mit Werken, geschaffen für die Ballets Russes, die in ihrer ursprünglichen Form selten zu sehen sind, oder bereits als Ikonen der Ballettliteratur gelten.

Mehr Überzeugungsarbeit als John Neumeier geleistet hat geht nicht. Die Chance war einmalig, die Welt der Ballets Russes zu erkunden. Wurde sie wahrgenommen? Nicht wirklich.

Beim Gastspiel des ausgezeichneten Ballet de Lorraine wurde sie sogar gänzlich vertan. Der zweite Abend der auf Rekonstruktionen spezialisierten Compagnie war schlecht besucht. Bei "Petruschka", von den Franzosen und im Ausschnitt während der Gala von Lloyd Riggins und Silvia Azzoni getanzt, ging übrigens der Vergleich zugunsten der Gäste aus.

Dass beispielsweise George Balanchines kristallklarer "Apollon musagète", superb getanzt von Etoiles der Pariser Oper, von manchen Zuschauern sichtbar verschlafen wurde, ist unrühmlich. Als langweiligen "Kinderkram" empfanden auch etliche Zuschauer den absolut sinnfreien Geniestreich "Parade" von den vier Künstlergrößen Jean Cocteau, Erik Satie, Léonide Massine und Pablo Picasso. Ihr Urteil deckte sich mit dem jener Dame, die bei der Uraufführung 1917 in Paris mäkelte: "Wenn ich gewusst hätte, wie harmlos es sein würde, hätte ich die Kinder mitbringen können."

Hätte sie es nur getan, dann hätten diese Kinder schon frühzeitig erfahren, wie Ballette als großartige Gesamtkunstwerke gestaltet werden können.

Die fabelhaften Tänzer der Donlon Dance Company aus Saarbrücken schmissen sich mit Verve in das Vergnügen. Warum haben sie eigentlich, ebenso wie die Nymphen vom Bayerischen Staatsballett München in "L'après-midi d'un Faune", im Gegensatz zu allen anderen Tanzsolisten nur eine Rose anstelle eines üppigen Bouquets erhalten? Das war nur peinlich zu nennen.

Der Faun des Tigran Mikayelyan hätte im Übrigen noch lasziv erotischer sein können, wohingegen Mathias Heymann und Laetitia Pujol von der Pariser Oper entzückten in "Le spectre de la Rose". Leanne Benjamin vom Royal Ballet London raubte einem als kalt glitzernder Feuervogel den Atem, Isabella Ciavarola und Stéphane Bullion - beide aus Paris - dagegen rührten mit schwebender Leichtigkeit in "Giselle", während Silvia Azzoni und Vladimir Malakhov vom Staatsballett Berlin Jerome Robbins' Sicht auf den "Afternoon of a Faun" sinnlich naiv und sehr fein beziehungsvoll beziehungslos tanzten. Alexander Trusch war ein sportlich schöner Bub in "Train Bleu", wohingegen sich Johan Stegli bereits für große Aufgaben in der Welt des Balletts empfiehlt.

Wie unverkrampft John Neumeier Liebe ausdrücken konnte, zeigt sich im Pas de deux aus "Illusionen - wie Schwanensee" mit Joelle Boulogne und Otto Bubenicek.

Musikalisch war der Abend top mit Konzertmeister Anton Barachowsky und den Philharmonikern unter Simon Hewett.