Große Vielfalt, beste Laune und eine anrührende Hommage: 7000 Zuhörer genossen fast 20 Konzerte bei strahlendem Sonnenschein.

Salzau. "Ich könnte jetzt einen ganzen Eimer Bier vertragen", ächzt der Endvierziger mit dem grau melierten Pferdeschwanz. O ja, da ist er nicht der Einzige: Pünktlich zum Start des JazzBaltica-Wochenendes hat der Sommer in Schleswig-Holstein Einzug gehalten. Die Sonne sengt unbedrängt auf die Salzauer Schlosswiese - und auf die wie immer ausverkaufte Konzertscheune. It's Saunatime.

Aber musikalischen Konditionswundern wie Joe Locke scheint das nichts auszumachen. Während die meisten Besucher mit klebrigen T-Shirts auf den Holzstühlen hängen und sich jedes Fußwippen genau überlegen, um den Schweißfluss nicht unnötig anzuregen, heizt der New Yorker Star-Vibrafonist dem Publikum mit seiner Power-Performance zusätzlich ein. Er lässt die Klöppel in wahnwitzigem Tempo über das Instrument rasen, angetrieben von den Schlagzeugsalven seines tausendarmigen Drummers Jonathan Blake. Sehr beeindruckend und mitunter eine Spur (zu) sportlich, dieser Auftritt der Energiebündel-Band namens Force of Four, die einen starken Kontrast zum Anfang setzt. Denn in der ersten Hälfte des Eröffnungskonzerts erinnern Joakim Milder und das JazzBaltica Ensemble mit einer Reihe von lyrisch getönten Stücken an den letztes Jahr verstorbenen Kollegen und Freund Esbjörn Svensson - eine anrührende Hommage.

Mit diesen Gegensätzen umriss schon das Auftaktkonzert die große Vielfalt, die Festivalmacher und Jazzenthusiast Rainer Haarmann seinen insgesamt 7000 Besuchern in fast 20 Konzerten und Sessions präsentierte. "Durch den Verzicht auf einen ,artist in residence' ergaben sich Freiräume, die ich nutzen wollte, um die verschiedenen Spielarten des zeitgenössischen Jazz aufzuzeigen und um die Menschen neugierig zu machen für Entdeckungen."

Zu diesen Entdeckungen gehört etwa die junge kapverdische Sängerin Mayra Andrade und ihre Band. Mit einer Mischung aus Latin Jazz, karibischen und schwarzafrikanischen Elementen ist sie ein besonders exotischer Farbtupfer im ohnehin bunten Salzauer Panorama. Das selbstverständliche und entspannte Miteinander verschiedener Sprachen, Ethnien, Geschmäcker und Generationen prägt nicht nur Künstler und Besucher, sondern auch das Speisenangebot an den Ständen auf der Wiese: Da trifft Sushi auf saftige Bauernbratwurst und Maultaschen mit Küstenknollensalat; das süddeutsche Camperpaar vom Zeltplatz sitzt mit den feiner gekleideten Tagesausflüglern aus Kiel am selben Tisch.

Die musikalische Bandbreite reichte vom pop-affinen Soul-Jazz der schwedischen Schmusesamtstimme Ida Sand bis zu den cool abgezirkelten Rätselgrooves des New Yorker Claudia Quintets; die Besetzungsgrößen umfassten den intimen kammermusikalischen Dialog der Pianisten Joachim Kühn und Michael Wollny (ein großer Moment!) ebenso wie verschiedene Bigband-Formationen: Sie bildeten einen Schwerpunkt des Programms. Besonders eindrucksvoll geriet dabei der Auftritt der NDR Bigband mit der Grammy-Preisträgerin Maria Schneider. Ihre sinfonisch angelegten Kompositionen entfalten weite Spannungsbögen, opulente Farben und eine große Ausdruckskraft, die das Genre der Bigband neu belebt - ebenso wie die elektronisch angereicherten Sounds der Kollegen aus Graz, die allerdings neben vielen faszinierenden Ideen auch so manchen Takt mit durchgestyltem Leerlauf in ihre Trance-Beats einstreuen.

Zu den Höhepunkten des Festivals zählte dagegen die mitternächtliche Weltpremiere von "Percussion Discussion": Unter diesem Titel brachte Rainer Haarmann fünf Musiker um Joe Locke und den phänomenalen Steptänzer Maurice Chestnut zusammen, die den begeisterten Besuchern eine atemberaubende Show der rasanten Rhythmen und perkussiven Virtuosität in die Ohren tackerten. Ein sensationeller Tagesabschluss nach zehn Stunden Musik. Darauf einen Eimer Bier. Oder auch zwei.